Das Alltagsleben im Schmelztiegel

Sozialarbeiterin Birsen Yetisti: „Ich liebe mein Heimatland, und ich bin auch Wienerin“
Was sich die Bewohner des zehnten Bezirks für das zukünftige Miteinander erhoffen.

Favoriten, der Inbegriff des Schmelztiegels: Hier leben Österreicher und Immigranten, Jung und Alt, Arbeiter und Besserverdiener. Bereits jetzt der einwohnerstärkste Bezirk Wiens, wird Favoriten in Zukunft um weitere zwanzig Prozent wachsen. Wie funktionierte das Zusammenleben bisher – und was erhoffen sich die Einwohner für die Zukunft? Der KURIER unternahm einen Bezirksrundgang mit zwei alteingesessenen Favoritnern und einer Bewohnerin mit türkischem Hintergrund.

Helmut und Berta Wenzel wurden in den 1940er-Jahren in Favoriten geboren. Seitdem leben sie dort und kennen jedes Grätzel, jede Gasse, jedes Haus. Sie berichten von Bombentrichtern, in denen sie als Kinder spielten, und von Schrebergärten, aus denen sie Äpfel stahlen.

Bezirk im Wandel

Das Alltagsleben im Schmelztiegel
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Freilich, es ist ein anderes Favoriten, von dem sie erzählen: Voller Leben auf den Straßen, mit Wirten, Waschsalons und Kinos an jeder Ecke. Und heute? "Jetzt leben wir in Klein-Istanbul", sagt Berta Wenzel und lacht. "Inmitten türkischer Geschäfte und türkischer Nachbarn." Problem sei das aber keines: "Wir essen gerne türkisch und die Nachbarn sind nett. Einer hat mir sogar Blumen zum Muttertag geschenkt."

Favoriten sei aber schon immer ein Zuwandererbezirk gewesen, gibt Berta Wenzel zu bedenken: "Auch wir gingen mit tschechischen Kindern in die Schule. Vielleicht ging die Integration aber schneller, immerhin hatte fast jeder eine tschechische Großmutter."

Freilich hätten sich die Zeiten und die Herausforderungen geändert: Ihre Tochter etwa unterrichte heute an einer Schule mit hohem Ausländeranteil. "Da gab es einen Buben, der war ein kleiner Macho." Aber: "Seit sie sich mit den Eltern unterhalten hat, gibt es keine Probleme mehr."

Das Alltagsleben im Schmelztiegel
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Ihr Ehemann ergänzt: "Viele Zuwanderer kommen heute aus einem anderen Kulturkreis, das Straßenbild hat sich sehr verändert." Dass dies verunsichern könne, verstehe er. Indes: "Man muss auf die Menschen zugehen – dann funktioniert das Zusammenleben." Als Beispiel nennt er das Nachbarschaftsfest, das seit zehn Jahren am Antonsplatz stattfindet (siehe Interview unten): "Alle bringen Speisen aus ihren Herkunftsländern mit und Volksgruppen treten auf." Gemeinsames Feiern verbinde, sagt er. "Dank des Festes haben wir mittlerweile das Gefühl: Wir gehören zusammen."

Gleichberechtigung

Was beide immer wieder beschäftige, sei das "Mann-Frau-Respekt-Thema" unter Immigranten, wie sie es nennen: "Ich glaube, das Zusammenleben wird noch besser, wenn es mehr Gleichberechtigung gibt und die Frauen selbstständiger werden", sagt Berta Wenzel.

Die türkischstämmige Sozialarbeiterin Birsen Yetisti jedoch fühlt sich keineswegs untergeordnet als Frau: "Ich arbeite hier, ich habe zwei Kinder großgezogen, ich liebe mein Heimatland, aber ich bin auch Wienerin", betont sie selbstbewusst.

Das Alltagsleben im Schmelztiegel
Meist funktioniere das Zusammenleben in Favoriten, manchmal werde sie aber angefeindet. Etwa nach den Anschlägen in Paris: "Ich sehe ängstliche Blicke, skeptische Blicke." Einmal riss ihr eine Frau gar das Kopftuch vom Kopf.

Dabei betrachte sie Vielfalt als Vorteil: "Es ist doch schön, wenn man Elemente aus verschiedenen Kulturen lebt, etwa die Gastfreundschaft aus der Türkei." Wobei man das Gemeinsame nicht vergessen dürfe: "Gefühle wie Freude oder Trauer empfinden alle gleich."

Wo sich die drei Favoritner einig sind: Für das künftige Zusammenleben sei es wichtig, aufeinander zuzugehen. "Wir müssen uns lieben und Verständnis haben", sagt Yetisti. "Und wir müssen den Zuwanderern zeigen, dass wir nicht gegen sie sind", ergänzt Helmut Wenzel. "Man sollte nicht hetzen und nicht engstirnig sein." Er gibt zu bedenken: "Im Urlaub ist man auch fremd und möchte akzeptiert werden." Daher bilde Reisen in verschiedene Länder: "Wenn ich immer nur nach Osttirol fahre, kann ich schwer Vorurteile abbauen", scherzt er.

Lesen Sie hier noch einmal Teil eins der KURIER-Serie "Die Zukunft Wiens"

Demnächst folgt Teil 3: Stadtentwicklung im zweiten Bezirk

KURIER: Was ist Ihrer Erfahrung nach das Wichtigste, um das Zusammenleben der Menschen im Bezirk zu regeln?Stefan Almer: Das Wichtigste ist der persönliche Kontakt – das Schlimmste hingegen ist das Nicht-Reden. Wichtig ist auch, keine Verallgemeinerungen und keine pauschalisierenden Vorwürfe zu verwenden. Das führt nur in eine Sackgasse.

Favoriten gilt als Arbeiterbezirk und als Schmelztiegel, in dem Menschen verschiedener Herkunft zusammenleben. Ist Favoriten ein "Problembezirk"?

Absolut nicht. Nicht einmal irgendwie. Das sind bloß Vorurteile. Was mir hier gut gefällt, ist die Kultur der Direktheit. Wenn einem etwas nicht gefällt, spricht man es meistens einfach direkt an.

Dennoch gibt es sicherlich auch Konflikte im Bezirk?

Es gab zum Beispiel Spannungen zwischen den Einwohnern verschiedener Herkunft rund um den Antonsplatz. Das Problem war, dass einfach nicht kommuniziert wurde. Wenn sich etwas aufstaut, muss man es ansprechen. Nur so kann man eine Situation nachhaltig verändern.

Was wurde unternommen, um die Situation zu entschärfen?

Wir haben ein Fest in der Nachbarschaft initiiert: Wir wollten, dass die Menschen etwas gemeinsam machen. Das war vor etwa zehn Jahren: Im ersten Jahr wurden nur ein paar Tische aufgestellt und jeder hat Essen oder Getränke mitgebracht. Die Anfänge waren noch sehr bescheiden (lacht). Aber Wiener und Migranten haben immerhin etwas gemeinsam unternommen. Mittlerweile ist es ein riesiges Fest, an dem jeden Sommer mehr als 1000 Personen teilnehmen. Es gibt ein buntes Bühnenprogramm mit Tanz und Musik und sogar ein gemeinsames Fußballturnier.

Und seitdem funktioniert das Zusammenleben besser?

Absolut. Konflikte sind kein Thema mehr. Ich habe schon x-mal von den Bewohnern gehört: "Es ist schön, dass wir einander endlich kennengelernt haben." Wie ich sage: Persönliche Kontakte sind das A und O.

Was halten Sie von der Diskussion über Parallelgesellschaften? Gibt es diese in Favoriten?

Das verneine ich definitiv. Diese Diskussionen gab es doch bereits in den 1990er-Jahren. Ich kann nur jeden einladen, hier mit den Menschen zu sprechen und sich vor Ort ein Bild zu machen. Ich habe noch nie verschlossene Türen vorgefunden.

Favoriten hat einen Migrantenanteil von 37,5 Prozent. Bis zum Jahr 2034 soll er auf fast 40 Prozent steigen. Wird die Integration auch in Zukunft klappen?

Favoriten ist zu hundert Prozent fit für die Zukunft. Ich bin zutiefst überzeugt, dass das hinzukriegen ist. Es ist Arbeit – keine Frage. Niederschwellige Angebote sind daher wichtig: Wir werden unsere Netzwerke nutzen, um auf die Neuankömmlinge zuzugehen, sie anzusprechen und ihnen zu helfen. Man darf nicht matschkern, sondern man muss anpacken. Immerhin steht Favoriten ja auch für eine offene, pragmatische Art.

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