Nach dem nicht ganz harmonischen Abgang von Langzeit-Direktor Johannes Reiss läuft die Ausschreibung für die Nachfolge. Die Geschichte der „Sieben Gemeinden“ könnte künftig ins Zentrum rücken
Das Österreichische Jüdische Museum in Eisenstadt steht vor einem Umbruch. Johannes Reiss, seit 1989 Leiter und Promotor des 1972 gegründeten Museums, hat nach einer außerordentlichen Generalversammlung des Trägervereins Mitte Juni seinen Rückzug bekannt gegeben und das Haus in der Unterbergstraße mittlerweile verlassen. Freiwillig zwar, aber früher als geplant. Der 63-Jährige, der in den vergangenen Jahren stark auf Digitalisierung und Social Media gesetzt hat, um das kleine Haus weltweit ins Gespräch zu bringen, wäre gern noch einige Zeit geblieben.
Die „Ignoranz“, die ihm – zum Teil auch im eigenen Haus – entgegenschlug, habe ihn aber zunehmend entnervt, lässt der Judaist im KURIER-Gespräch anklingen. Zudem sei das Museum seit Auslaufen von EU-Förderungen um das Jahr 2010 herum finanziell chronisch unterdotiert gewesen. „Systemerhaltung statt Gestaltung“ habe das unausgesprochene Motto gelautet. Das Gestalten sei fast ausschließlich seiner Eigeninitiative überlassen geblieben, plaudert Reiss aus dem Nähkästchen.
Auf dem Jobportal der Republik ist die Leitung des bundesweit ältesten jüdischen Museums schon ausgeschrieben, zuständig ist das von Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) geführte Kulturministerium. Die Bewerbungsfrist endet am 9. August. Erwünschter Dienstantritt ist der 1. Dezember. Das Gehalt für den unbefristeten Job liegt in einer Bandbreite von rund 3.300 bis maximal 5.400 Euro brutto. Weit weg vom Salär in Kunstmuseen, aber für die wissenschaftliche und betriebliche Leitung des Eisenstädter Hauses in Ordnung, befinden Insider. Verlangt werden im Gegenzug u. a. „gute Kenntnisse der jüdischen Geschichte des Burgenlandes und des angrenzenden Raumes“; Kenntnisse des Hebräischen seien „von Vorteil“ – zwingend sind sie nicht.
Spannungen im Museum
Bis zur Bestellung von Reiss‘ Nachfolger(in) wird das Museum interimistisch von Dieter Szorger geführt. Der Historiker und stellvertretende Leiter der Kultur- und Wissenschaftsabteilung des Landes Burgenland ist Geschäftsführer des Vereins Österreichisches Jüdisches Museum in Eisenstadt. Das Verhältnis zwischen Reiss und Szorger soll zuletzt nicht das beste gewesen sein. Bund, Land, Stadt Eisenstadt und die anderen acht Bundesländer sind Fördergeber des Museums. Vereinsmitglied ist auch die Israelitische Kultusgemeinde Wien, die mit Claudia Prutscher die Vereinspräsidentin stellt.
Die Finanzierung des Museums mit zuletzt durchschnittlich rund 4.000 jährlichen Besuchern erfolgt neben Shop- und Kartenverkäufen vor allem durch Subventionen der Mitglieder. Größter Geldgeber ist das Land, laut dem letzten verfügbaren Kulturbericht von 2021 lag der Mitgliedsbeitrag bei 66.000 Euro. Die Leiterstelle wird vom Bund finanziert, die restlichen vier Mitarbeiter sind beim Verein angestellt und werden nach Landesschema entlohnt.
Reiss hat sich in den vergangenen Jahren besonders um die digitale Dokumentation jüdischer Friedhöfe verdient gemacht. 2015 etwa wurden in achtmonatiger Pionierarbeit die Inschriften der insgesamt 1.082 Grabsteine auf dem älteren der beiden Eisenstädter jüdischen Friedhöfe dokumentiert. 2017 folgten die Gräber des jüngeren Friedhofs. Reiss entzifferte die hebräischen Inschriften. Seither weiß man, wer hier begraben ist.
Weil die Informationen auch elektronisch erfasst, jeder Grabstein mit Foto und Inschrift online gestellt und auf den Grabsteinen Plättchen mit einem QR-Code angebracht wurden, können seither Juden in aller Welt die Gräber ihrer Eisenstädter Vorfahren virtuell besuchen. In anderen Friedhöfen ist diese Arbeit noch zu tun, aber auch in Eisenstadt muss Reiss nacharbeiten. Viele Plättchen mit dem QR-Code wurden abgerissen (Reiss vermutet touristische Souvenirjäger) und müssen ersetzt werden.
Die Dokumentation der Gräber und Publikationen auf seinem Blog „Koschere Melange“ haben Reiss und das Museum in der Welt bekannt gemacht, während das Interesse im Burgenland auch nach mehr als 50 Jahren sehr verhalten ist.
Landespolitiker würden einen Bogen ums Museum machen, Bundespolitiker hätten für eine Jubiläumsausstellung im Vorjahr nicht einmal ein paar Zehntausend Euro bereitgestellt, klagt der frühere Museumschef.
Sieben Gemeinden
Zur künftigen inhaltlichen Ausrichtung des ältesten jüdischen Museums Österreichs will sich Szorger noch nicht äußern. Einen Hinweis gibt die Ausschreibung, wo „insbesondere auch die Erinnerung an die so genannten Sieben Gemeinden“ als Aufgabe genannt wird.
Das würde auch Gerhard Baumgartner unterschreiben. Der frühere Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes und profunde Kenner der jüdischen Geschichte Pannoniens soll in einem erst zu gründenden wissenschaftlichen Beirat des Museums vertreten sein. Historiker Baumgartner hält eine „detaillierte Aufarbeitung“ der Judengemeinden auf burgenländischem Boden für längst überfällig. Zumal die Voraussetzungen ideal seien, weil die Quellenlage ausgezeichnet sei – vom jüdischen Zentralarchiv, das vom Land an die Israelitische Kultusgemeinde Wien übergeben wurde, bis zum Herrschaftsarchiv der Esterhazy reiche das Material.
Was wünscht Reiss den Nachfolgern? „Große Leidenschaft und gute Ideen“. Er selbst wird mit allen Daten seiner „Koscheren Melange“ einen neuen Blog unter https://der-transkribierer.at/ starten. Am 18. August, auf den Tag genau 14 Jahre nach seinem Debüt als Blogger.
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