Kindheit in der Krise: Neue Herausforderungen für SOS Kinderdorf Burgenland

Kindheit in der Krise: Neue Herausforderungen für SOS Kinderdorf Burgenland
Das SOS-Kinderdorf Burgenland steht im 64. Jahr seines Bestehens vor großen Herausforderungen. Eine Generation verliert sich in Gewalt, Drogen und digitalen Welten.

Die ersten Kinder, die in das 1960 gegründete SOS-Kinderdorf Pinkafeld eingezogen sind, sind heute längst im Pensionsalter. Im Kinderdorf selbst wird im 64. Jahr seines Bestehens kein Gedanke an den Ruhestand verschwendet. Ganz im Gegenteil: Die Aufgaben sind heute komplexer denn je. Sie reichen von der Eltern-Kind-Begleitung bis zur Straßenarbeit mit drogenabhängigen Jugendlichen. Kinderdorfleiter Marek Zeliska gab dem KURIER einen Einblick in die aktuell größten Herausforderungen.

Von einem Zuhause für Waisenkinder habe sich das SOS-Kinderdorf in den vergangenen sechs Jahrzehnten zum „sozialen Nahversorger“ entwickelt, erklärt Zeliska: „Früher mussten sich die Kinder dem Betreuungsangebot anpassen, heute passen wir uns an die Kinder an. Gott sei Dank gibt es in Österreich heutzutage kaum noch Kinder ohne Eltern. Heute werden die Eltern mitbetreut“.

14.000 Kinder aus krisengebeutelten Familien befinden sich derzeit österreichweit in Fremdunterbringung. Diese kann von Fall zu Fall unterschiedlich aussehen. Im burgenländischen SOS-Kinderdorf gibt es beispielsweise Wohngruppen für Jugendliche, betreutes Wohnen außerhalb des Kinderdorfes oder die Eltern-Kind-Begleitung.

Kinderdorf-Mütter und -Väter gestalten ein liebevolles Zuhause

Kinderdorf-Mütter und -Väter gestalten ein liebevolles Zuhause 

Das Ziel sei dabei immer das gleiche: „Die Eltern sollen, wenn es die Umstände erlauben, ihr Kind wieder zurückbekommen. Mit vielen präventiven Maßnahmen muss das Kind im besten Fall gar nicht aus dem Familienverband herausgerissen werden“, erläutert Marek Zeliska.

325 Kinder begleitet das SOS-Kinderdorf Burgenland derzeit in verschiedenen kurz- bis langfristigen Betreuungsformen. Zusätzlich werden jährlich 55 Familien in Krisensituationen präventiv durch „SOS-mobil“ betreut. Wichtig ist Zeliska zu betonen, dass die „klassische“ Kinderdorffamilie nicht abgeschafft wurde: „Wir haben nie etwas ersetzt, wir haben erweitert.“

Die Probleme der burgenländischen Familien sind heute so komplex wie die Zeiten, in denen sie leben. Marek Zeliska gibt einen Überblick: „Physische und psychische Gewalt ist ein Riesenthema. Suizidales Verhalten ist erschreckend weit verbreitet.“ Außerdem: „Während der Pandemie sind viele Jugendliche in die digitale Welt hineingefallen und nicht mehr herausgekommen. An den Schulen müsste viel mehr digitale Kompetenz vermittelt werden, und auch Gegenangebote zu den digitalen Welten geschaffen werden.“

75 Jahre 
1949 wurde SOS-Kinderdorf Österreich gegründet. Anlass waren Not und Armut nach dem Zweiten Weltkrieg und die hohe Zahl von Waisenkindern. Inzwischen gibt es 572 Kinderdörfer auf der ganzen Welt.

Hilfe und Beratung
Die Telefonhilfe für Kinder, Jugendliche und deren Bezugspersonen, ist unter  147 rund um die Uhr kostenlos und ohne Vorwahl aus ganz Österreich erreichbar. Auf rataufdraht.at wird auch eine Chat-Beratung angeboten.

325 Familien
Im Burgenland begleitet das SOS-Kinderdorf derzeit 325 Kinder und Familien in verschiedenen Betreuungsformen.

Zwölfjährige auf Drogen

Ein Indikator dafür, wo der Schuh besonders drückt, ist für das SOS-Kinderdorf die Beratungsstelle „147 Rat auf Draht“. Sie verzeichnet in Österreich täglich 250 Kontakte per Telefon und Chat. Das Thema Drogen ist bereits bei 12- und 13-Jährigen auffallend präsent.

Auch im Burgenland, wie Marek Zeliska aus Erfahrung berichtet. Vor allem Neusiedl am See und Oberwart hätten sich zu Suchtmittel-Hotspots entwickelt. In der südlichen Bezirkshauptstadt begegnet das SOS-Kinderdorf der dieser Krise mit Streetwork. Zeliska erklärt: „Der Streetworker geht dorthin, wo die Probleme sind. Das war in Oberwart zum Beispiel der Skaterplatz. Das hat sich dann auch wieder beruhigt.“ Die größte Herausforderung bei der Sozialarbeit auf der Straße sei es, Leute zu finden, „die sich das zutrauen“, sagt Zeliska.

Im Großen und Ganzen könne er in puncto Personal aber nicht klagen. Das SOS-Kinderdorf Burgenland habe sich ein 200-köpfiges Team mit geringer Fluktuation aufgebaut. „Wenn wir Leute suchen, dann finden wir sie auch“, sagt der Kinderdorfleiter. Aber: Die Zahl der Bewerbungen habe sich in den vergangenen zehn Jahren halbiert.

Das SOS-Kinderdorf rekrutiert sein Personal vor allem aus Absolventinnen und Absolventen der SOB Pinkafeld und des Kollegs für Sozialpädagogik in Oberwart. An der FH Burgenland gibt es zwar auch einen Bachelor-Studiengang für Soziale Arbeit, aber: „Die FH spüren wir im Süden nicht. Da gibt es viele Absolventen, die scheinbar nicht im Burgenland bleiben“, meint Zeliska.

Psychiatrie: Bitte warten

Als größtes Manko im burgenländischen Gesundheitssystem nennt der Kinderdorfleiter das Fehlen einer stationären Jugendpsychiatrie: „Da hat das Burgenland ein Riesendefizit. Wir müssen die Kinder auf die Psychiatrie nach Graz oder Hinterbrühl bringen“. Der Landesregierung dürfte das Problem bewusst sein: Erst vor einem Monat wurde ein großer Um- und Ausbau des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder in Eisenstadt angekündigt. Geplant ist eine Abteilung für Jugendpsychiatrie mit 30 Betten. Mit der Fertigstellung ist allerdings nicht vor 2034 zu rechnen.

In der Zwischenzeit wartet noch viel Arbeit auf das SOS-Kinderdorf Burgenland. Zusätzlich zum Tagesgeschäft hat das SOS-Krisenteam im Vorjahr 153 unmündige unbegleitete Minderjährige betreut, die von der Polizei an der Grenze aufgegriffen wurden. 

All diese sozialen Dienstleistungen seien nur dank der vielen treuen Spenderinnen und Spender möglich, betont Marek Zeliska. „Wir könnten gar nicht genug Betreuungsplätze haben. Wir wollen individuell und unbürokratisch helfen. Dafür brauchen wir auch Spenden.“

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