Brief aus den letzten Tagen jüdischen Lebens in Eisenstadt

Brief aus den letzten Tagen jüdischen Lebens in Eisenstadt
Autor Konstantin Schmidtbauer erinnert an einen Brief der Eisenstädterin Hilde Schlesinger-Schiff an ihre Tochter Elisabeth vom Juni 1938 – kurz vor der endgültigen Vertreibung aus der Heimat.

Bereits wenige Tage nach dem "Anschluss" Österreichs ans nationalsozialistische Deutschland im März 1938 begann im Burgenland die Ausweisung der jüdischen Bevölkerung. 

Im Oktober 1938 hatten "die letzten Juden Eisenstadt verlassen", schreibt Johannes Reiss, bis vor kurzem Direktor des Österreichischen Jüdischen Museums in Eisenstadt, im Sammelband "Burgenland schreibt Geschichte". 

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Eines der vermutlich letzten, bestimmt aber eines der eindringlichsten schriftlichen Zeugnisse späten jüdischen Lebens in der Freistadt hat der Autor Konstantin Schmidtbauer dem Vergessen entrissen: Einen Brief, den Hilde Schlesinger-Schiff, Nichte von Weinhändler und Landesmuseumsgründer Sándor Wolf, am 13. Juni 1938 aus Eisenstadt an ihre Tochter Elisabeth in Sopron schrieb. 

Äußerer Anlass für den Brief ist der 20. Geburtstag der Tochter, die in Sopron als Kindergärtnerin arbeitet, während die Mutter in Eisenstadt  ihren eigenen betagten Eltern  bei der Vorbereitung der  erzwungenen Ausreise beisteht.  

Gestoßen ist Schmidtbauer  auf die  zwei  auf der Vorder- und Rückseite eng beschriebenen Blätter aus einem Notizheft im Leo Baeck Institute (LBI) – New York / Berlin. Dort sind Nachlässe geflüchteter Jüdinnen und Juden aufbewahrt. 

Um die Dokumente einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hat das LBI das Projekt "Stolpertexte" initiiert. In Anlehnung an die mittlerweile weltweit zu Zehntausenden auf Wegen und Straßen verlegten Stolpersteine, die an vertriebene und ermordete Menschen erinnern, sollen Stolpertexte  "über jüdische Schicksale, die im Archiv des Leo Baeck Instituts  dokumentiert sind", informieren, erläutert LBI-Direktor David Brown. 

Brief aus den letzten Tagen jüdischen Lebens in Eisenstadt

Konstantin Schmidtbauer, Autor des Stolpertextes

Der Brief gewährt Einblick ins jüdische Leben und dessen Verzweigungen und Verwerfungen am Beispiel zweier Frauen

von Konstantin Schmidtbauer

Autor des Stolpertextes

Warum hat der 27-jährige Schmidtbauer, der in Zemendorf (Bezirk Mattersburg) aufgewachsen ist, in Wien Germanistik studiert hat und nun am Deutschen Literaturinstitut Leipzig inskribiert ist, just diesen Brief ausgesucht?  

Weil es einen persönlichen Anknüpfungspunkt gibt. Aber dazu später mehr.

Schmidtbauer hat seine gesamte Schulzeit im Eisenstädter "Wolfgarten" verbracht. Die mittlerweile geschlossene Übungsvolksschule und das immer noch bestehende diözesane Gymnasium befinden sich auf einem Areal, das der Familie Wolf gehörte. 

Einen Steinwurf vom Gymnasium entfernt befindet sich das Urnenmausoleum der einst alteingesessenen Familie. Sándor Wolf wird im März 1938 von der Gestapo verhaftet. Ihm gelingt mit seiner Familie die Flucht nach Palästina, wo er am 2. Jänner 1946 stirbt.  

Brief aus den letzten Tagen jüdischen Lebens in Eisenstadt

Der Brief von Hilde Schlesinger-Schiff. Ihr Haus befand sich neben dem Landesmuseum (Bild oben).

In der Schule hat Schmidtbauer darüber freilich das Wenigste erfahren. Erst die Beschäftigung mit dem in den USA archivierten Brief hat den   Autor auf diesen Teil der burgenländischen Geschichte   gestoßen – und ließ ihn tiefer graben. 

Geschichte(n)

Entstanden ist ein Stolpertext, der den Brief historisch einbettet – und zwar in beide Richtungen auf der Zeitachse. 

So erfährt man bei der Lektüre des Briefs der Mutter an ihr  „Herzenskind“ fast wie nebenbei auch etwas über die weit zurückreichende Geschichte der selbstständigen jüdischen Großgemeinde von Eisenstadt oder den weiteren Lebensweg von Mutter und Tochter.  

Hilde Schlesinger-Schiff, frühere Redakteurin der 1938 eingestellten Eisenstädter Zeitung, schaffte mit ihren drei jüngeren Kindern die Flucht, ebenso ihre älteste Tochter Elisabeth.   Die Familie trifft in England zusammen, ehe sich die Wege wieder trennen.   Schlesinger-Schiff stirbt 1985 mit 93 Jahren in Israel. 

Tochter Elisabeth, verehelichte Hirsch, die in den USA als Professorin für Kinderpsychologie Karriere macht, überlässt den Brief dem Leo Baeck Institute.   2002  interviewt Gert Tschögl von der Burgenländischen Forschungsgesellschaft Elisabeth Hirsch in den USA. Sie stirbt 2014 mit 95 Jahren. Während die Tochter nach 1945 Eisenstadt besucht, weigert sich die Mutter: "Nein, nein, ich will es nie wieder sehn!"

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