Helmut Sillner führt jeden Sonntag durchs Kurmuseum - seit 35 Jahren

„Geh zu den Alten, die können dir was erzählen!“, riet ihm ein Kollege – und das tat Helmut Sillner.
von Eduard Schlaffer
Es gibt Menschen, die erzählen Geschichten. Und dann gibt es Helmut Sillner – er lebt sie. Wer ihn in Bad Tatzmannsdorf trifft, begegnet keiner blassen Chronik, sondern einem Mann, der die Vergangenheit wie eine kunstvoll gewebte Decke über seine Zuhörer breitet.
Seine Worte haben einen eigenen Rhythmus, seine Stimme schwingt zwischen Wissen und Witz. „Geschichte ist nichts Statisches“, sagt er mit einem Zwinkern, „sie passiert in den Köpfen, wenn man sie gut erzählt.“
Er ist klein gewachsen, aber seine Präsenz füllt jeden Raum. Sein Rücken ist gerade, seine Haltung straff – ein Überbleibsel von Jahrzehnten in der Schule, auf Wanderungen und in seinem geliebten Museum. Sein graues Haar ist stets ordentlich gekämmt, die Anstecknadel mit dem alten Wappen von Bad Tatzmannsdorf blitzt an seinem Sakko. Dazu trägt er oft eine Krawatte – nicht aus Eitelkeit, sondern aus Prinzip. „Wenn der Inhalt nicht mehr ganz frisch ist, muss die Verpackung umso besser sein!“, sagt er und lacht.
Helmut Ziller: nicht nur Erzähler, sondern ein Erlebnis
Seine Augen funkeln, wenn er zu erzählen beginnt. Und erzählen kann er. Egal, ob es sich um bedeutende historische Ereignisse, kleine Begebenheiten aus dem Kurort oder humorvolle Anekdoten über Gäste handelt – er findet für alles den richtigen Ton.
Wer ihn auf einer seiner legendären Führungen erlebt, spürt: Hier spricht ein Mann, der nicht nur Wissen weitergibt, sondern es lebt, es atmet, es liebt. Schon nach wenigen Sätzen ist klar: Helmut Sillner ist nicht nur ein Erzähler, er ist ein Erlebnis.
Wenn Sillner eines kennt, dann ist es Disziplin. Seit er 1990 mit seinen Führungen begann, hat er keinen einzigen Sonntag ausgelassen. Krankheit, Wetter oder Feiertage – nichts konnte ihn abhalten, seine Besucher mit Wissen und Anekdoten zu begeistern. „Pflichtbewusstsein“, sagt er mit Nachdruck, „ist keine Last, sondern eine Selbstverständlichkeit.“
34 Jahre ist er bereits in Pension – und trotzdem aktiver als viele Berufstätige. „Manche denken, Rente heißt Ruhe“, sagt er und lacht. „Aber was wäre das für ein Leben? Da würde ich ja einrosten!“

Seine Tage begannen früh. Nach ihren Kuren am Vormittag begleitete er die Kurgäste am Nachmittag auf ausgedehnten Wanderungen – viele Jahre lang. „Das hat meine Knie beansprucht“, gesteht er, „aber ich habe auch viel gesehen!“ Und er hat beobachtet – die Kurgäste, ihre Gewohnheiten, ihre Gespräche. Und natürlich die berühmten Kurschatten, die kleinen Liebschaften und Romanzen, die sich zwischen den Heilquellen entsponnen. „Da bin i oft auf die Saaf gstiegn!“, sagt er schelmisch und blinzelt. Doch für ihn ist nicht nur das Erzählen eine Pflicht, sondern auch das Bewahren.
Besonders am Herzen liegt ihm das Grab von Lilli Strauß, jener mutigen Frau, die trotz eigener Armut zwei Waisenkinder großzog. „Ich kümmere mich drum“, sagt er ernst, „weil Erinnerung Verpflichtung ist.“
Der Weg zum Erzähler
Helmut Sillner wurde 1931 geboren – eine Zeit, in der sich die Welt bereits im Umbruch befand. Seine Kindheit fiel in jene Jahre, die von den Schatten des Zweiten Weltkriegs geprägt waren. Sein erstes Schuljahr verbrachte er mit Büchern, deren Seiten voller nationalsozialistischer Propaganda waren. „Da war das Krukkensymbol auf jeder Seite“, erinnert er sich. „Und nach dem Krieg? Da hat man die Seiten einfach wieder zusammengeklebt.“

Schon früh zeigte er ein Gespür für Sprache und Wissen. Seine Lehrerin erkannte seine Begabung und ermutigte ihn, Lehrer zu werden – eine Idee, die in seinem Elternhaus zunächst auf Skepsis stieß. „Papa, ich will Lehrer werden!“ – „Na, wenn“s denn sein muss…“, kommentierte sein Vater trocken. Doch Helmut ließ sich nicht beirren.
Die Nachkriegsjahre waren hart. Hunger, Kälte, Entbehrungen. Essensmarken waren Alltag, und während andere Kinder spielten, streunte er durch verlassene Gebäude, suchte nach Brauchbarem. „Ich hab Uniformen gefunden, alte Militärjacken – meine Großmutter hat sie umgefärbt, damit wir was zum Anziehen hatten.“
Mit 16 Jahren war er Vollwaise. Doch anstatt sich seinem Schicksal zu fügen, setzte er seinen Weg unbeirrt fort. Er besuchte die Lehrerbildungsanstalt in Wien, eine harte Schule, die ihn auf den Beruf vorbereitete. Mit minimalen Kalorien pro Tag, wenig Schlaf und viel Disziplin kämpfte er sich durch. „Wir hatten 950 Kalorien täglich. Aber Wissen hat mir immer Kraft gegeben.“
Seine erste Anstellung fand er in Kaprun, dann wechselte er nach Wien. Und dort begann eine Karriere, die ihn nicht nur zum geschätzten Lehrer, sondern später auch zum Direktor einer Sonderschule machen sollte. Doch das war erst der Anfang einer Reise, die ihn letztlich zu dem machte, was er heute ist – ein Hüter der Geschichte und ein begnadeter Erzähler.
Lehrer & Visionär
Als Sillner in Wien unterrichtete, war er noch ein junger Lehrer mit Ehrgeiz, aber ohne klare Vorstellung davon, was ihn wirklich erfüllte. Doch bald entdeckte er seine Leidenschaft für Kinder mit besonderen Bedürfnissen. „Ich war zuerst ein fauler Hund“, gibt er zu, „aber dann hat mich der Ehrgeiz gepackt.“
1979 wurde er Direktor einer Schwerstbehindertenschule – ein Amt, das ihn forderte und gleichzeitig erfüllte. Er führte innovative Konzepte ein, ließ Eltern als Lernbegleiter in den Unterricht einbeziehen und setzte sich für Übungswohnungen für Schüler ein. Sein Ziel: Lebenstüchtigkeit, nicht bloß Theorie.

Sein größter Coup? Die Einladung von Bundespräsident Kirchschläger. „Man gibt einem Bundespräsidenten keinen Terminvorschlag“, sagt er schelmisch. „Aber wissen Sie was? Er kam trotzdem. Und er blieb den ganzen Vormittag.“
Eine neue Heimat
1965 kam Helmut Sillner nach Bad Tatzmannsdorf. Er war neu in der Gegend, doch er wusste: Um einen Ort zu verstehen, muss man mit den Menschen sprechen. „Geh zu den Alten, die können dir was erzählen!“, riet ihm ein Kollege – und das tat er. Er sammelte Geschichten, Erinnerungen und Erlebnisse. Bald war er nicht mehr nur Zuhörer, sondern auch Bewahrer.
Er engagierte sich in der Gemeinschaft, half beim Hausbau und wurde Teil des Dorflebens. Dabei wuchs seine Leidenschaft für die Geschichte des Kurortes immer weiter. Als sich eine Gelegenheit bot, ein Museum zu gründen, griff er zu – zunächst in seinem eigenen Keller. „Meine Frau war entzückt!“, sagt er grinsend. Doch die Sammlung wuchs, und das Museum zog in den Quellenhof um. Dort begann eine neue Ära – nicht nur für ihn, sondern für die gesamte Gemeinde.
Direktor Sillner wurde zu einer festen Größe im Ort. Seine Führungen waren bald weit über die Grenzen Bad Tatzmannsdorfs hinaus bekannt. „Ich wollte nicht nur die Geschichte bewahren, sondern sie lebendig machen“, sagt er. Und genau das tat er – mit Leidenschaft, Hingabe und seinem unverwechselbaren Humor.
Führung? Zeitreise!
Sillners Führungen sind keine gewöhnlichen Geschichtsstunden. Sie sind lebendige Inszenierungen, eine Mischung aus historischer Erzählkunst, feinem Humor und szenischen Darstellungen. Wer ihn begleitet, taucht nicht nur in die Vergangenheit von Bad Tatzmannsdorf ein, sondern wird Teil eines faszinierenden Theaterstücks.
„Geschichte muss man spüren!“, sagt er mit leuchtenden Augen, während er ein altes Foto hochhält. Seine Zuhörer stehen gebannt um ihn herum, gespannt auf die nächste Anekdote. Er erzählt von den einstigen „Champagnerbädern“ der feinen Herrschaften, von den kuriosen Heilmethoden der Vergangenheit und von Grillparzers wenig schmeichelhaftem Aufenthalt in der Kurstadt. „Der war zu neidig!“, sagt er schmunzelnd.
Besonders amüsant sind seine Schilderungen der alten Kurgäste und ihrer Liebschaften. „Da bin i oft auf die Saaf gstiegn!“, erzählt er mit schelmischem Grinsen. Und wenn er über das Schweizerhaus spricht, in dem einst TBC-Kranke über Kühen untergebracht waren, fügt er hinzu: „Die dachten, die Luft von unten heilt – stellen Sie sich vor, Sie kommen schlank an und gehen pummelig heim!“
Seine Sprache ist bildhaft, seine Gestik mitreißend. Immer wieder rezitiert er Passagen aus alten Dokumenten, lässt vergangene Zeiten lebendig werden. „Manche nennen es eine Führung“, sagt er. „Ich nenne es eine Zeitreise.“
Das Erbe bewahren
Doch Helmut Sillner erzählt nicht nur Geschichten, er bewahrt sie auch. Er sieht sich nicht nur als Chronist, sondern als Hüter der Vergangenheit. Sein Museum, einst in seinem eigenen Keller begonnen, wuchs über die Jahre zu einer einzigartigen Sammlung historischer Dokumente, Fotografien und Erinnerungsstücke heran. „Es reicht nicht, Geschichte nur zu kennen“, sagt er ernst. „Man muss sie erhalten, weitergeben – sonst verschwindet sie.“

Seine Arbeit ist nicht immer leicht. Viele Exponate hat er mühsam zusammengetragen, aus privaten Nachlässen gerettet oder durch akribische Recherche wiederentdeckt. „Jedes Stück hat seine eigene Geschichte, man muss nur zuhören.“ Sein Stolz sind nicht nur die Artefakte, sondern die Menschen, die durch ihn wieder ein Bewusstsein für ihre Wurzeln entwickeln.
Besonders am Herzen liegt ihm die nächste Generation. Schulklassen führt er mit besonderer Hingabe durch sein Museum, erzählt ihnen von den kleinen und großen Geschichten des Ortes. „Wenn´s die Jungen nicht interessiert, dann stirbt das Wissen mit mir“, sagt er nachdenklich. Doch er ist optimistisch – solange er spricht, solange er erzählt, wird die Vergangenheit lebendig bleiben.
Museum als Vermächtnis
Direktor Sillner weiß, dass kein Erzähler ewig sprechen kann. Deshalb denkt er längst über die Zukunft seines Museums nach. „Ich habe gesammelt, bewahrt und erzählt – aber es muss weitergehen“, sagt er mit Nachdruck. Sein größter Wunsch ist, dass sein Lebenswerk nicht nur erhalten bleibt, sondern wächst.
Seine Tochter hat bereits angekündigt, seine Führungen fortzuführen. „Sie kennt die Geschichten, sie kennt die Menschen – und sie liebt das Museum genauso wie ich.“ Doch Sillner möchte, dass das Museum nicht nur in der Familie bleibt, sondern auch in der Gemeinde eine festere Verankerung findet. „Ein Ort des Lernens und Entdeckens, wo Geschichte nicht verstaubt, sondern weiterlebt.“
Sein Traum? Eine dauerhafte Institution, die Schulklassen, Besucher und Geschichtsinteressierte anzieht, die nicht nur auf Erzählungen beruht, sondern interaktive Elemente bietet. „Geschichte muss man anfassen, fühlen und erleben können“, sagt er. „Nur so bleibt sie lebendig.“
Obwohl er seine letzten Führungen plant, blickt Sillner nicht mit Wehmut, sondern mit Stolz auf das, was er geschaffen hat. „Ich habe getan, was ich konnte. Jetzt liegt es an den anderen, die Geschichte weiterzuschreiben.“
Abschied ohne Ende
Sillner weiß, dass seine Zeit als aktiver Geschichtenerzähler sich dem Ende nähert. Doch für ihn bedeutet Abschied nicht Stillstand. „Ein Erzähler hört nie auf zu erzählen“, sagt er lächelnd. „Er findet nur neue Wege, es zu tun.“
Seine letzten Führungen sind geprägt von noch größerer Intensität. Er weiß, dass er das Publikum ein letztes Mal mit auf seine Zeitreise nimmt. „Manchmal kommen Besucher und sagen: „Ich wollte Sie immer einmal hören, bevor Sie aufhören.´ Das ist schön, aber auch ein wenig melancholisch.“
Er nimmt es gelassen. Statt Wehmut empfindet er Dankbarkeit. Dankbarkeit für die Geschichten, die Menschen, die ihn über die Jahre begleitet haben. Und vor allem für das Wissen, dass seine Erzählungen weiterleben werden. „Solange sich jemand an meine Worte erinnert, bin ich nicht wirklich weg.“
Sein Museum bleibt bestehen, seine Tochter wird seine Arbeit fortsetzen. Doch er selbst wird sich zurückziehen, sich mehr der Familie widmen, sich Zeit nehmen für das, was im Trubel der Jahre oft zu kurz kam. „Vielleicht schreibe ich all die Geschichten endlich nieder“, überlegt er. „Denn ein Wort ist flüchtig, aber das Geschriebene bleibt.“

„Geh zu den Alten, die können dir was erzählen!“, riet ihm ein Kollege – und das tat Helmut Sillner.
Und so endet eine Ära, doch die Geschichten von Helmut Sillner werden noch lange weitergetragen – in den Köpfen derer, die ihm zugehört haben, in den Erinnerungen an seine humorvollen, lebendigen Erzählungen und in den Fluren des kleinen Museums, das er mit so viel Herzblut aufgebaut hat. „Das ist kein Abschied“, sagt er. „Nur ein neuer Anfang.“
Sillners Vermächtnis
Was bleibt von einem Erzähler, wenn die Stimme verstummt? Bei Helmut Sillner ist die Antwort klar: seine Geschichten, seine Erinnerungen und sein unermüdliches Engagement für die Vergangenheit von Bad Tatzmannsdorf.
Sein Name wird mit dem Museum verbunden bleiben, mit den Anekdoten über Grillparzer, mit den lebendigen Schilderungen der Kurbäder und mit der unverwechselbaren Art, Geschichte als Erlebnis zu vermitteln.
Seine Arbeit hat Spuren hinterlassen, nicht nur in Form von Archiven und Exponaten, sondern vor allem in den Köpfen der Menschen, die ihm zugehört haben. „Man sagt, man stirbt zweimal: einmal, wenn das Herz aufhört zu schlagen, und einmal, wenn sich niemand mehr erinnert. Solange meine Geschichten weiterleben, bleibt ein Teil von mir hier“, sagt er mit einem Lächeln.
Und so geht sein Vermächtnis über die Räume des Museums hinaus. Es lebt in den Anekdoten, die weitergegeben werden, in den Kindern, die er für Geschichte begeistert hat, in den unzähligen Begegnungen, die er mit seinem Humor und seiner Weisheit bereichert hat.
Helmut Sillner hat bewiesen, dass Geschichte kein verstaubtes Buch ist, sondern eine lebendige Erzählung, die mit jeder Generation weitergeschrieben wird. „Es liegt nun an euch“, sagt er, „die Geschichte weiterzuerzählen.“
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