Wissen/Gesundheit

2020 ist die Zahl der Suizide nicht gestiegen

Lockdowns verlangen jedem betroffenen Menschen eine Umstellung des alltäglichen Lebens und eine Einschränkung der persönlichen Freiheit ab. Dies kann auch psychische Folgen haben. Gegner der Corona-Maßnahmen führen deswegen oftmals eine erhöhte Anzahl an Suiziden seit der Pandemie als Argument gegen die Corona-Maßnahmen an. Derartige Behauptungen fanden sich in den letzten Wochen immer wieder.

Das Team von APA-Faktencheck nutzte die Veröffentlichung aktueller Daten der Statistik Austria als Anlass, um dieses Thema aufzuarbeiten.

Zu überprüfende Behauptung: Die Maßnahmen zur Eindämmung von SARS-CoV-2 wie etwa Lockdowns führten in Österreich zu einer erhöhten Anzahl an Suiziden.

Einschätzung: Das ist falsch. Bisher ist kein Anstieg ersichtlich. Experten rechnen allerdings mit einem verzögerten Effekt.

Überprüfung:

Laut den aktuellen Daten der Statistik Austria vom 26. Februar 2020 ist die Zahl der Suizide im Jahr 2020 unauffällig geblieben. Insgesamt seien 1.068 Suizide registriert worden, was einen Rückgang von vier Prozent zum Vorjahr, in dem 1.113 Suizide verzeichnet werden mussten, bedeute. Im Vergleich zum Durchschnitt der letzten fünf Jahre sei der Wert sogar um elf Prozent zurückgegangen.

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Das Gesundheitsministerium teilte auf Anfrage der APA Anfang Februar mit, dass noch keine Zahlen für das Jahr 2020 vorlägen. Erste Daten aus den Bundesländern würden allerdings darauf hindeuten, dass es zu keinem Anstieg gekommen sei.

Das Ministerium verwies auf eine Studie von Eberhard A. Deisenhammer und Georg Kemmler, die sich die Lage in den ersten sechs Monaten nach Beginn der Pandemie in Tirol angesehen haben. Dort zeigte sich demnach auch nicht nur kein Anstieg der Suizide bis September 2020, sondern ein drastischer Rückgang. Seit dem Jahr 2006 suizidierten sich in der Zeitspanne 1. April bis 30. September immer mindestens 50 Personen, mit einem Höchstwert von 71 Toten im Jahr 2011. Im Pandemie-Jahr 2020 waren es nur 45.

Stärkerer Zusammenhalt

Die Autoren erklären diesen Rückgang unter anderem mit einem möglichen "Pulling Together"-Phänomen. Das bedeutet, dass sich der soziale Zusammenhalt angesichts einer externen Bedrohung und eines gemeinsamen Feinds stärke. Auch gesetzte soziale Initiativen und finanzielle Unterstützungen hätten eine Rolle gespielt.

Thomas Niederkrotenthaler, Suizidforscher an der Medizinischen Universität Wien, bestätigte auf APA-Anfrage, dass die Suizidzahl in Österreich laut bisherigen Daten stabil sei. Dies decke sich mit internationalen Studien zu diesem Thema. So habe man etwa in der International Covid-19 Suicide Prevention Research Collaboration Suiziddaten aus 21 Ländern und Regionen mit hohem oder mittlerem Einkommen verglichen und dabei keinen Anstieg der Suizide bis zum Sommer 2020 festgestellt, insbesondere in westlichen Ländern nicht. Die Studie sei aber noch in der Review-Phase.

Mehr depressive Symptome

Auch in regelmäßigen Befragungen der Bevölkerung zeige sich bis Dezember keine erhöhte Suizidalität, so Niederkrotenthaler. Die Anteile von Menschen mit depressiven Symptomen und Angst hätten sich aber seit Beginn der Pandemie erhöht und seien auch seit dem zweiten Lockdown weiter gestiegen. Da es sich hier um Risikofaktoren handelt, die zu Suizidalität führen könnten, rät Niederkrotenthaler, wachsam zu sein und Präventionsangebote auszubauen.

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Ein Blick in eine der angesprochenen, von der Unit Suizidforschung und Mental Health Promotion von der Medizinischen Universität Wien durchgeführten Befragungen von 1.000 Personen aus der österreichischen Bevölkerung im September zeigt, dass die Suizidalität nicht höher ist als vor der Pandemie. Nur 11,9 Prozent aller Personen mit Suizidgedanken berichteten von einer erhöhten Suizidalität im Vergleich zu vor der Pandemie. Für 46,3 Prozent ist diese Belastung im Vergleich gleich geblieben und 41,9 Prozent der Befragten antworteten sogar, dass die Suizidgedanken weniger oder schwächer geworden seien.

Im August hatte Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) nach einer Parlamentarischen Anfrage der FPÖ eine Frage nach Polizeieinsätzen aufgrund von Suiziden beantwortet. In keinem Bundesland war laut der in der Beantwortung gelieferten Daten für die Monate Jänner bis Mai ein Anstieg bei Suiziden im Vergleich zu den Vorjahren klar erkennbar.

APA-Faktencheck erfragte beim Innenministerium eine Ergänzung der Daten zu Polizeieinsätzen aufgrund von Suiziden für das restliche Jahr 2020. Dort erklärte man jedoch, dass eine derartige Auswertung sehr viel Aufwand bedeute und so viele Ressourcen belasten würde, dass eine Auswertung derzeit nicht möglich sei.

Sucheingaben weitgehend unverändert

Ein Blick auf die Sucheingaben bei Google via Google Trends zeigt, dass das Wort "Selbstmord" im Vergleich zu den Vorjahren nicht häufiger gesucht wird. Einzig im Februar 2021 kam es zu einer etwas erhöhten Verwendung des Suchbegriffs. Dies könnte allerdings durch den von Medien aufgegriffenen Suizid eines Bundesheer-Soldaten erklärbar sein.

Ein Grund für die derzeit konstanten Suizide könnte laut Suizidforscher Niederkrotenthaler sein, dass es in den ersten Phasen von Krisen auch Gegensteuerungen gebe, etwa neue und ausgebaute Unterstützungsangebote wie Psychotherapie auf Skype per Krankenschein und Arbeitsmarktinitiativen im ersten Lockdown.

Risikofaktoren weiterhin vorhanden

Derartige Maßnahmen könnten negative psychische Effekte "abpuffern, sodass die Ausnahmesituation nicht unmittelbar auf Suizide durchschlägt". Die Risikofaktoren seien aber weiterhin vorhanden, weshalb es jetzt und in Zukunft weiterhin psychosoziale sowie sozial- und wirtschaftspolitische Maßnahmen bräuchte, um einen möglichen Anstieg der Suizide zu verhindern, so Niederkrotenthaler.

In manchen anderen Ländern ist durchaus ein Anstieg der Suizide im Jahr 2020 zu beobachten. In Japan etwa suizidierten sich laut einer Studie während der zweiten Welle von Juli bis Oktober 16 Prozent mehr Menschen als in den Vorjahren. In den ersten fünf Monaten der Pandemie sei demnach noch ein Rückgang beobachtet worden.

Sorge um psychische Gesundheit

Als Risikofaktoren einer Pandemie für die psychische Gesundheit benennt Epidemiologe und Suizidologe David Gunnell gemeinsam mit anderen Forschern in ihrem wissenschaftlichen Aufsatz "Suicide risk and prevention during the COVID-19 pandemic" etwa erhöhte bisherige Faktoren wie Alkoholsucht oder häusliche Gewalt.

Arbeitslosigkeit könnte zu finanziellen Notlagen beitragen, während andere Maßnahmen, wie auch das Verbot religiöser Zusammenkünfte, die soziale Isolation fördern könnten. Die psychischen Folgen würden länger als die Pandemie dauern und ihren Höhepunkt auch erst danach finden, heißt es. Die Autoren verweisen aber darauf, dass die Forschung eine gute Basis für die Prävention von Suiziden bilde.

HINWEIS:

Sie sind in einer verzweifelten Lebenssituation und brauchen Hilfe? Sprechen Sie mit anderen Menschen darüber. Hilfsangebote für Personen mit Suizidgedanken und deren Angehörige bietet das Suizidpräventionsportal des Gesundheitsministeriums. Unter www.suizid-praevention.gv.at finden sich Kontaktdaten von Hilfseinrichtungen in Österreich.