"Hölle" droht: Russland holt für Offensive im Osten pensionierte Soldaten zurück
Nach dem Rückzug der russischen Armee aus dem Großraum Kiew und der Nordukraine befürchtet die ukrainische Regierung nun eine Großoffensive Russlands im Osten des Landes. "Sie ziehen Truppen zusammen für eine Offensive, und der Beschuss hat in den vergangenen Tagen zugenommen“, sagte etwa der Gouverneur von Luhansk, Serhij Hajdaj, in einer TV-Ansprache am Samstag.
Gegenüber der italienischen Zeitung Corriere della Sera meinte Hajdaj, es sei nur mehr "eine Frage von Tagen". "Sie stellen sich an der Grenze neu auf und bombardieren uns weiter. Sie kennen keine Moral mehr: Sie machen Krankenhäuser, Schulen und Häuser dem Erdboden gleich." In zahlreichen Städten im Osten der Ukraine ertönte Luftalarm.
Auf die Frage, was nun bevorstehe, sagte Hajdaj: "Die Hölle." Er erinnerte an Butscha oder Mariupol, wo seit Wochen schlimme Angriffe und Kriegsverbrechen beobachtet werden. "Bei uns wird es noch viel schlimmer", sagte der Gouverneur. Anders als in anderen Teilen des Landes gebe es in Luhansk für die Ukrainer kaum noch Bunker, in denen sie Schutz suchen können. "Wir verstecken uns in den Kellern. Ich versuche, alle meine Mitbürger zu überzeugen, von hier weg zu gehen."
Entlassene Soldaten wieder in den Dienst gestellt
Russland versucht, die zunehmenden Verluste seiner Invasionstruppen durch Soldaten auszugleichen, die seit 2012 aus dem Militärdienst entlassen wurden. Zu dieser Erkenntnis kommt der britische Militärgeheimdienst, wie das Verteidigungsministerium aus seinem regelmäßig veröffentlichten Bulletin auf Twitter mitteilt. Das Militär bemühe sich, seine Kampfkraft zu stärken.
Dazu gehöre auch der Versuch, Rekruten aus der von Russland gestützten und international nicht anerkannten Region Transnistrien im Osten der Republik Moldau zu gewinnen. Moldau grenzt im Westen an das EU-Mitglied Rumänien und im Osten an die Ukraine. Das kleine arme Land hat zahlreiche Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen.
Salpetersäure-Lager beschädigt
Unweit der umkämpften ostukrainischen Stadt Rubischne wurde offenbar ein Lager mit Salpetersäure durch Beschuss beschädigt. "Wenn Sie in einem Gebäude sind, schließen Sie Türen und Fenster!", warnte Hajdaj am Samstag.
Menschen in Bombenschutzkellern sollten diese nicht verlassen. Gleichzeitig veröffentlichte er ein Video mit einer dicken rötlichen Wolke, die von Salpetersäure stammen soll. Hajdaj sprach von russischem Beschuss. Der Gouverneur forderte die Zivilbevölkerung erneut dazu auf, die Region zu verlassen.
Die prorussischen Separatisten von Luhansk machen ukrainische Kräfte für den Chemieunfall verantwortlich. Die Berichte waren nicht unabhängig überprüfbar. Salpetersäure kann unter anderem gesundheitsschädigende Dämpfe freisetzen.
Beschuss lässt nicht nach
Im benachbarten Lyssytschansk forderte der Chef der militärischen Stadtverwaltung die verbliebenen Bürger zu Flucht auf. "Leider lässt der Beschuss nicht nach", sagte Olexander Sajika in einer Videobotschaft. Es sei überall gefährlich. Das Gebiet Luhansk werde jedoch nicht aufgegeben.
Noch immer hielten sich etwa 30 Prozent der Bewohner in Städten und Dörfern in Luhansk auf, obwohl bereits zur Evakuierung aufgerufen worden sei.
Bei russischen Angriffen in der Region Donezk sind nach ukrainischen Angaben fünf Zivilisten getötet worden. In der Stadt Wuhledar gebe es vier Todesopfer, erklärte Gouverneur Pawlo Kyrylenko im Messengerdienst Telegram.
Ein weiterer Zivilist sei in der nahegelegenen Ortschaft Nowomychailiwka getötet worden. Nach Angaben des Gouverneurs wurden bei den Angriffen auf die beiden südöstlich von Donezk gelegenen Orte zudem fünf Menschen verletzt.
Weiter nördlich, in der Region Charkiw, wurden nach Behördenangaben mindestens zwei Menschen bei einem russischen Bombardement getötet. Ein Mensch sei zudem bei dem Angriff in Slatyne verletzt worden, teilte der Bürgermeister der Nachbargemeinde Dergatschi auf Facebook mit.
Russlands Armee bestätigte neue Angriffe in den ukrainischen Gebieten Dnipro und Poltawa. Unweit der südostukrainischen Stadt Dnipro sei in der Nacht auf Samstag ein Waffenlager mit Raketen beschossen worden, sagte der Sprecher des russischen Verteidigungsministerium, Igor Konaschenkow.
Russische Truppen haben nach ukrainischen Angaben zudem erneut den Flughafen von Dnipro angegriffen und diesen "vollständig zerstört". Sowohl der Flughafen als auch die umliegende Infrastruktur seien zerstört worden, erklärte am Sonntag der für die ostukrainische Stadt zuständige Gouverneur auf Telegram.
In Myrhorod im zentralukrainischen Poltawa richtete sich ein Angriff demnach gegen einen Flugplatz. Von ukrainischer Seite hieß es, dabei seien zwei Menschen verletzt worden.
Seit über sechs Wochen führt Russland einen Angriffskrieg gegen den Nachbarn Ukraine. Ein Ziel ist die Eroberung der dicht besiedelten Industrieregion Donbass in den Gebieten Donezk und Luhansk. Nach UN-Angaben sind seit Kriegsbeginn mindestens 1.700 Zivilisten getötet worden.