Mehr als 50 Tote bei Angriffen auf Tschernihiw, Raketentrümmer im Kiewer Hochhaus
Auch am 22. Tag nach dem russischen Angriff meldet die Ukraine Kämpfe und Zerstörung. Im Osten Kiews schlugen demnach in der Nacht auf Donnerstag Raketentrümmer in einem Hochhaus ein. Drei Bewohner seien verletzt worden. Bei Angriffen auf die nordukrainische Stadt Tschernihiw kamen mehr als 50 Menschen an einem Tag ums Leben. Die ukrainischen Streitkräfte zerstörten unterdessen nach eigenen Angaben einen Kommandostand der russischen Armee.
"Das bedeutet womöglich den Tod von einigen Generälen und entsprechend eine Pause und Desorganisation des Gegners bei der Führung von Kampfhandlungen", sagte Präsidentenberater Olexij Arestowytsch am Donnerstag in einer in sozialen Netzwerken verbreiteten Videobotschaft. Es solle sich dabei um die aus dem Fernen Osten Russlands stammende 35. Armee handeln, hatte vorher das ukrainische Militär mitgeteilt. Generell gab es Arestowytsch zufolge jedoch kaum Lageveränderungen. Überprüfen ließen sich die Angaben nicht.
Dem Generalstab der ukrainischen Armee zufolge haben sich die russischen Streitkräfte im Luhansker Gebiet im westlichen und nordwestlichen Teil der Stadt Rubischne festgesetzt. Westlich und nördlich der Separatistenhochburg Donezk würden ukrainische Positionen angegriffen. Russische Truppen hätten sich im nordwestlichen Teil des Gebietes Cherson an der Grenze zur Region Dnipropetrowsk festgesetzt, hieß es. Damit wären sie nur rund 30 Kilometer von der Großstadt Krywyj Rih entfernt.
Bei einem Angriff im ostukrainischen Gebiet Charkiw sind Behördenangaben zufolge 21 Menschen getötet worden. Weitere 25 Menschen seien in der Stadt Merefa verletzt worden, teilte die Bezirksstaatsanwaltschaft mit.
Brand im 16-stöckigen Gebäude
Zunächst war bei der Zerstörung eines Hochhauses in Kiew auch von einem Todesopfer die Rede gewesen. Der Brand in dem 16-stöckigen Gebäude sei gelöscht worden, hieß es. Andererseits soll die ukrainische Armee binnen 24 Stunden sechsmal vier Siedlungen in der selbst ernannten Volksrepublik Luhansk (LNR) beschossen haben. Das berichtete die russische Agentur Tass mit Berufung auf Vertreter der Separatisten in der LNR in der Nacht auf Donnerstag. Dabei sei ein Haus zerstört und eines beschädigt worden, hieß es im Telegram-Kanal des LNR-Vertreters.
Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen hilft unterdessen einem großen Krankenhaus in Kiew, sich auf eine potenzielle Zunahme von Opfern vorzubereiten. Ein chirurgisches Team von Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF) führte laut einer Mitteilung der Organisation Schulungen und Beratung für das Personal des 750-Betten-Kinderkrankenhauses Okhmatdyt durch. Ein MSF-Chirurg mit Erfahrung in der Kriegschirurgie assistierte auch im Operationssaal und beriet die Chirurgen über Vorgehensweisen in der Kriegstrauma-Chirurgie.
Ukrainer haben "einen Plan"
Die Ukraine kündigte Russland indes einen noch intensiveren Kampf an, falls Kiew von den Angreifern erobert werden sollte. Von dem Szenario gehe man zwar nicht aus, sagte Olexij Arestowitsch, Berater des Büroleiters von Präsident Wolodymyr Selenskij, der italienischen Zeitung La Repubblica. "Aber wir haben einen Plan. Wenn wir Kiew verlieren, wird die Regierung weitermachen wie bis jetzt. Der Widerstand geht weiter. Und er wird noch schärfer, weil von einem Wunsch nach Rache geschürt."
Arestowitsch unterstrich, dass laut ukrainischen Informationen die Russen bei deren Offensive auf Kiew große Probleme haben. Von sieben russischen Brigaden und 15 bis 20 Bataillonen seien inzwischen nur noch drei Brigaden und zehn Bataillone übrig, behauptete er. Die Ukrainer hätten den Russen erhebliche militärische Verluste zugefügt, allein 84 von 100 Kampfflugzeugen seien abgeschossen worden. Solche Angaben können von unabhängiger Seite schwer verifiziert werden.
53 Leichen in Tschernihiw
Bei Angriffen auf die nordukrainische Stadt Tschernihiw kamen unterdessen nach Angaben örtlicher Behörden mehr als 50 Menschen an einem Tag ums Leben. "Allein in den letzten 24 Stunden sind 53 Leichen unserer Bürger, die vom russischen Aggressor ermordet wurden, in den Leichenhallen der Stadt eingetroffen", teilte der Chef der Militärverwaltung des Gebiets, Wjatscheslaw Tschaus, am Donnerstag bei Telegram mit. Er machte Russland für Angriffe auf die zivile Infrastruktur verantwortlich. Die Angaben ließen sich zunächst nicht unabhängig prüfen.
Russland setzt indes seine Angriffe im Gebiet Charkiw im Nordosten der Ukraine nach Angaben aus Kiew fort. Der Beschuss habe die gesamte Nacht über gedauert, teilte die ukrainische Armee am Donnerstag früh mit. Es seien auch Häuser getroffen worden. "Die Kämpfe gehen in Richtung Isjum und Tschuhujiw weiter." Die "Besatzer" hätten in der Stadt Merefa eine Schule und ein Kulturhaus zerstört. Es gebe Verletzte. Genaue Zahlen wurden nicht genannt. Aus Russland lagen keine Angaben vor.
Militärdepot in Region Riwne getroffen
Aus dem Gebiet Cherson im Südosten am Fluss Dnjepr berichtete die ukrainische Armee von heftigen Explosionen. Das Gebiet sei vollständig von russischen Truppen besetzt. Die Versorgung mit Strom, Wasser und Gas sei fast überall unterbrochen. Es fehle an Nahrungsmitteln und Medikamenten. "Die Lage ist kritisch."
Dagegen berichtete die russische Seite am Donnerstag von Erfolgen "gegen russische Nationalisten" rund um die Großstadt Sjewjerodonezk. Sprecher Igor Konaschenkow berichtete auch von Schlägen gegen ukrainische Truppen in der nahe gelegenen Stadt Rubischne. Im Gebiet Donezk gehe die Offensive ebenfalls weiter, sagte Konaschenkow. Der Vormarsch habe vier Kilometer betragen. Es seien weitere Dörfer eingenommen worden.
Zudem gab das Verteidigungsministerium in Moskau bekannt, ein ukrainisches Militärdepot in der westlichen Region Riwne getroffen zu haben. In den vergangenen Tagen hatte es immer wieder Luftangriffe auf Ziele in der Westukraine gegeben, um die Versorgung des Landes mit Rüstungsgütern westlicher Staaten zu treffen. Moskau hatte auch NATO-Rüstungstransporte außerhalb der Ukraine zu legitimen Zielen erklärt.
Gespräche per Video
Die ukrainische Staatsführung hat allen Bürgern versprochen, ihre im Krieg zerstörten Häuser und Wohnungen wieder aufzubauen. Programme zum Wiederaufbau seien bereits in Arbeit, sagte Präsident Wolodimir Selenskij. Was auch immer es für Schäden geben möge, er sei zuversichtlich, dass das Land in der Lage sei, alles rasch wieder herzustellen.
Über die Verhandlungen mit Russland sagte Selenskij, diese liefen per Video weiter. Seine Prioritäten seien klar: "Ein Ende des Krieges, Sicherheitsgarantien, Souveränität und Wiederherstellung der territorialen Integrität."
Vom Westen forderte er erneut die Durchsetzung einer Flugverbotszone sowie ein neues Sanktionspaket gegen Russland, da die russische Wirtschaft weiter in der Lage sei, ihre Kriegsmaschinerie am Laufen zu halten. Außerdem forderte er abermals Luftverteidigungssysteme, Flugzeuge, tödliche Waffen und Munition für die ukrainischen Streitkräfte.
„Die Arbeit wird fortgesetzt“, bestätigte auch Kremlsprecher Dmitri Peskow am Donnerstag. „Unsere Delegation unternimmt große Anstrengungen und zeigt eine viel größere Bereitschaft als unser ukrainisches Gegenüber“, meinte er. Russlands Bedingungen seien „äußerst klar, ausformuliert und den ukrainischen Verhandlungsführern vollständig zur Kenntnis gebracht“.
Dass die Gespräche nicht schneller vorankämen, sei die Schuld der ukrainischen Seite, meinte Peskow. Dieser steht ebensi wuie fast 900 weitere Personen in Russland unter Sanktionen der EU.
"Wunder" im Theater in Mariupol
Der Vize-Bürgermeister von Mariupol berichtete unterdessen von katastrophalen Zuständen in der Hafenstadt. Besonders dramatisch sei die mangelnde Wasserversorgung, sagte Serhij Orlow dem Magazin Forbes Ukraine. "Ein kleiner Teil der Menschen kann privat Wasser aus Brunnen entnehmen", sagte er in dem Interview, das ukrainische Medien am Donnerstag aufgriffen. Da die Heizungen ohnehin nicht mehr funktionierten, entnähmen manche Wasser aus den Heizungsrohren, um es zu trinken. "Manche sagen auch, dass sie es aus Pfützen nehmen. Als es Schnee gab, haben sie den geschmolzen."
Orlow sagte weiterhin, dass 80 bis 90 Prozent der Gebäude in Mariupol bombardiert worden seien. Er warf den Russen vor, gezielt Zivilisten zu attackieren, um so eine Kapitulation der Stadt mit ihren zu Kriegsausbruch 400.000 Einwohnern zu erzwingen.
Aus einem bombardierten Theater in Mariupol sind unterdessen Aussagen einer Parlamentsabgeordneten zufolge bereits rund 130 Zivilisten gerettet worden. "Gute Nachrichten, die wir so dringend brauchen: Der Luftschutzkeller unter dem Theater von Mariupol hat standgehalten. Circa 130 Menschen wurden bereits gerettet", schrieb Olga Stefanyschyna am Donnerstag auf Facebook. Helfer seien damit beschäftigt, Trümmer zu entfernen und weitere Menschen zu befreien. "Es ist ein Wunder", schrieb Stefanyschyna.
Das Gebäude war ukrainischen Angaben zufolge am Mittwoch angegriffen und weitgehend zerstört worden. Kiew und Moskau gaben sich gegenseitig die Schuld. Behördenangaben zufolge hatten zum Zeitpunkt des Angriffs mehr als 1.000 Menschen im Theater Schutz gesucht.
Fluchtkorridore
Ukrainischen Angaben zufolge sind für Donnerstag landesweit neun Fluchtkorridore geplant, über die sich Zivilisten aus umkämpften Gebieten in Sicherheit bringen können. In die von Russland belagerte Hafenstadt Mariupol, wo die Lage besonders dramatisch ist, solle zudem von Saporischschja aus ein Tanklaster mit Kraftstoff für Privatautos geschickt werden, sagte Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk am Vormittag in einer Videobotschaft.
In den vergangenen Tagen hatten ukrainischen Angaben zufolge Tausende Zivilisten Mariupol mit seinen einst 400.000 Einwohnern in rund 6.500 Privatautos verlassen. Auf der Flucht sollen sie aber teils beschossen worden sein. Hilfskonvois hingegen kommen nach Angaben aus Kiew seit Tagen nicht bis in die Stadt am Asowschen Meer durch.
Weitere Fluchtkorridore soll es am Donnerstag laut Wereschtschuk auch aus der ostukrainischen Stadt Charkiw nach Wowtschansk sowie aus den Orten Borodjanka und Schewtschenkowe bei Kiew nach Schytomyr und Browary geben. Außerdem sollen Lebensmittel und Medikamente in fünf weitere Orte gebracht werden, darunter Hostomel in der Kiewer Region.