Die Angst der Machthaber vor dem Weltstrafgerichtshof
Von Jürgen Klatzer
Ende der Neunzigerjahre ist Augusto Pinochet gesundheitlich angeschlagen. Der ehemalige Diktator und Oberbefehlshaber des chilenischen Militärs leidet an Diabetes, ein Herzschrittmacher sorgt für einen geregelten Herzschlag und starke Rückenschmerzen quälen ihn schon seit Jahren. In Chile kann dem 82-Jährigen aber kein Arzt helfen. Niemand will für den Tod des Ex-Staatschefs verantwortlich sein, der dank maßgeschneiderter Verfassung nun Senator auf Lebenszeit ist und weiterhin politische Immunität genießt.
Genau das ist der Grund, warum der chilenische Despot trotz spanischer Strafanzeige, in der er des Völkermordes, Terrorismus und Folter beschuldigt wird, keine Bedenken hat, sich am 8. Oktober 1998 in eine Privatklinik im noblen Londoner Stadtviertel Marylebone einzuweisen, um sich dort operieren zu lassen. Pinochet hat seinen Diplomatenpass bei sich, die Immunität scheint ihm sicher zu sein. Doch, als der spanische Richter Baltasar Garzón vom Aufenthalt erfährt, faxt er ein Ansuchen nach London, den Ex-Diktator umgehend festzunehmen und nicht außer Landes reisen zu lassen.
Meilenstein für das Völkerrecht
16. Oktober 1998, es ist kurz vor Mitternacht: Beamte von Scotland Yard entwaffnen Pinochets Bodyguards und versperren alle Ausgänge des Krankenhauses. Der 82-jährige Chilene, der sich in seinem Zimmer aufhält, wird aufgeweckt und darüber in Kenntnis gesetzt, dass er wegen Menschenrechtsverbrechen unter Hausarrest steht. Widerstand ist zwecklos.
Die Festnahme Pinochets erregt international große Aufmerksamkeit. Menschenrechtsvertreter zelebrieren die internationale Zusammenarbeit. Die Rechtsprofessorin Naomi Roht-Arriaza spricht in ihrem 2005 erschienenen Buch "The Pinochet Effect" von einer wichtigen Zäsur für das Völkerrecht. Seither überdenken Kriegsherren ihre Reiserouten gründlicher. Der Mythos der unverwundbaren Diktatoren ist zusammengebrochen.
Kein Frieden ohne Gerechtigkeit
Die Suche nach einem probaten Mittel, um Tyrannen wie Pinochet strafrechtlich zu verfolgen, beschäftige die Internationale Gemeinschaft schon sehr lange. Nach den Kriegsverbrechertribunalen in Nürnberg 1945 und Tokyo 1946 wurde ein Expertengremium des UN-Sicherheitsrates damit beauftragt, Möglichkeiten eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofs zu erkunden. Im Jahr 1951 wurde sogar ein erster Entwurf vorgestellt, der wegen des Beginns des Kalten Kriegs aber nach kurzer Zeit bereits auf Eis gelegt wurde. Es dauerte abermals 50 Jahre bis die UNO aktiv wurde. Ausschlaggebend waren die Völkermorde in Ex-Jugoslawien und Ruanda in den Neunzigerjahren. Man war einer Meinung: Die Verantwortlichen dieser bestialischen Taten dürften nicht unbestraft bleiben.
Dann, am 17. Juli 1998, wenige Wochen vor der Verhaftung Pinochets in London, war es endlich soweit. Bei der Diplomatenkonferenz in Rom haben 120 der damaligen 163 UN-Mitgliedsstaaten nach zähem Ringen die völkerrechtliche Grundlage (Römisches Statut) zur Errichtung des ständigen internationalen Strafgerichtshof (IStGH) im niederländischen Den Haag unterzeichnet. Nachdem die ersten 60 Staaten ihre Unterschriften auch ratifiziert hatten, nahm der IStGH seine Arbeit offiziell im Jahr 2002 auf und verfolgt seitdem Einzelpersonen wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Verbrechen der Aggression.
Die Krise des Weltstrafgerichtshofs
Heute gehören 124 Staaten dem Den Haager Strafgerichtshof an, weitere 31 haben das Römische Statut unterschrieben. Allerdings ist es derzeit um die Institution nicht besonders gut bestellt. Nach Burundi, Gambia und Südafrika, die ihre Mitgliedschaft 2016 aufgekündigt hatten, wendet sich nun auch Russland, das als eines der ersten Staaten das Statut im Jahr 2000 unterschrieben, aber nie ratifiziert hat, von der Rechtsinstanz ab. Ebenfalls mit einem Austritt drohte der philippinische Präsident Rodrigo Duterte.
Während die Regierung in Moskau ihren Schritt wegen "mangelnder Effizienz" und "Einseitigkeit" des Strafgerichtshof begründet, meinen die anderen Staaten, in Den Haag regiere das Gesetz des Stärkeren. "Diese schamlosen Leute hauen nur auf kleine Länder wie unseres drauf", sagte der nicht gerade als wortkarg bekannte Duterte. Gambia, Burundi und Südafrika orten gar einen Rückfall in die Kolonialzeit. Es würden hauptsächlich Menschen mit schwarzer Hautfarbe verfolgt werden, Kriegsverbrechen Weißer ignorieren die Richter.
Frank Höpfel, Strafrechtsexperte der Uni Wien und ehemaliger Richter des Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien, kann die Kritik der Austrittstaaten nicht ganz nachvollziehen. "Ja, es gibt Probleme. Der Strafgerichtshof steckt noch in seinen Kinderschuhen. Das liegt unter anderem daran, weil mächtige Länder wie die USA, Israel oder China dem IStGH nicht beigetreten sind. Es fehlt an internationaler Unterstützung."
Im Grunde sei die Idee des globalen Rechtssystems, dass möglichst viele Länder das Römische Statut ratifizieren - "je mehr, desto besser" sei das Credo, sagt Höpfel. Aber angesichts dieser Lücken in der Mitgliedschaft sei es nachvollziehbar, dass bei vielen Afrikanern der Eindruck entsteht, es handle sich beim IStGH um eine Justiz, die es lediglich auf die sowieso schon Schwachen abgesehen habe, erklärt der Rechtsexperte.
Gute Nachricht für Kriegsverbrecher
Die Fakten sprechen für diese Annahme: Seit Entstehen des Gerichtshofs im Jahr 2002 sind ausschließlich Afrikaner dort angeklagt und vor Gericht gestellt worden. Gegenwärtig wird in neun Ländern (zehn Fälle) ermittelt. Acht davon liegen in Afrika. Die einzige Ausnahme ist Georgien. Aus afrikanischer Sicht kann man da schnell auf den Gedanken kommen, dass sich die Internationale Gemeinschaft nur in ihre Angelegenheiten einmischt, und das, obwohl man nicht behaupten kann, dass seit 2002 ausschließlich Afrikaner Verbrechen verübt hätten. Man fragt sich, warum keine Ermittlungen gegen den syrischen Diktator Bashar al-Assad oder gegen mutmaßliche Kriegsverbrechen des Westens (Irak-Krieg 2003 oder Bombardements in Libyen 2011) eingeleitet werden.
Die Befugnisse des Weltstrafgerichtshofs seien sehr eingeschränkt, sagt Höpfel und fügt hinzu, dass genau das zu kritisieren sei. "Die Forderung nach einer universellen Zuständigkeit konnte nie durchgesetzt werden. Kriegsverbrecher können nur zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie einem Mitgliedstaat angehören, die Verbrechen auf dem Territorium eines solchen Vertragsstaates begangen wurden, oder durch einen Beschluss des UN-Sicherheitsrates", klärt der Rechtsexperte auf. Letzteres geschah bisher nur im Fall von Sudan und Libyen, nicht aber in Syrien, wo seit mehr als fünf Jahren ein blutiger Bürgerkrieg wütet. Das Land gehört aber nicht dem IStGH an und konnte einem UN-Mandat bisher ausweichen (Warum die UNO in Syrien nicht eingreift, Anm.).
"Es krankt eher daran, dass die UNO-Großmächte wie die USA, Russland und China ihr Veto-Recht im Sicherheitsrat vehement verteidigen. Sie weigern sich auch, das Römische Statut zu ratifizieren", sagt Höpfel. Übrigens legt das Statut noch ausdrücklich fest, dass ein Verfahren vor dem Strafgerichtshof nur dann zulässig ist, wenn der Staat "nicht willens oder nicht in der Lage" ist, die Ermittlungen oder die Strafverfolgung "ernsthaft" durchzuführen. "Wenn der IStGH ein Verfahren einleitet, fühlen sich die Machthaber vermutlich oft in ihrer Würde verletzt. Wer lässt sich schon gerne sagen, dass man mit Problemen im eigenen Land nicht klarkommt?", fragt der Rechtsprofessor rhetorisch.
Sind die Machthaber beleidigt?
Genau diese Ehrenverletzung könnte auch bei der derzeitigen Austrittswelle eine Rolle gespielt haben.
Südafrika: Im Juni 2015 hätte die Regierung in Pretoria als IStGH-Mitglied den wegen Völkermordes gesuchten sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir während seines Aufenthalts in dem Land festnehmen müssen. Doch Präsident Jacob Zuma ließ ihn wieder ausreisen. Eine Verhaftung sei "unvereinbar" mit Südafrikas Verfassung. Dem sudanesischen Präsidenten wird vorgeworfen, in der Krisenprovinz Darfur für den Tod von Hunderttausenden Menschen verantwortlich zu sein. Die Regierung an Afrikas Südspitze hingegen fühlte sich "unfair" behandelt.
Russland: Im Frühjahr 2016 nahm die Chefanklägerin des Weltstrafgerichtshofs, die gambische Juristin Fatou Bensouda, bereits Ermittlungen zum Südossetien-Krieg zwischen Russland und Georgien auf. In den vergangenen Wochen erklärte sie außerdem, die russische Besetzung der Halbinsel Krim und die Kämpfe in der Ostukraine seit 2014 deuteten auf einen bewaffneten internationalen Konflikt hin. Diese Einschätzung des IStGH könnte der Regierung in Moskau sauer aufgestoßen sein.
Burundi: Staatschef Pierre Nkurunziza steht seit Jahren selbst im Visier der IStGH-Ermittler. Chefanklägerin Bensouda leitete im April Vorermittlungen zu Berichten über Morde, Folter, Vergewaltigung und anderen Formen der sexuellen Gewalt ein.
Gambia: Yahya Jammeh, seit dem Putsch 1994 Präsident in Gambia, gilt als Diktator der übelsten Sorte. Kritische Journalisten lässt er verfolgen, öffentlich ruft er zum Mord an Homosexuellen auf. Den IStGH hält Jammeh für eine Demütigung aller Afrikaner, oppositionelle Politiker lässt der Despot hinrichten.
USA: Die Vereinigten Staaten haben das Römische Statut zwar unterschrieben, aber nie ratifiziert. Stattdessen zogen sie sich wie Russland und China zurück. Die offizielle Begründung: Der IStGH könnte US-amerikanische Staatsbürger aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgen. Das wollte man nicht - verfolgt müssen die anderen werden.
"Dass nun der Widerstand von genau diesen Staaten kommt, zeigt, dass das Modell funktioniert", befindet Höpfel. Dass Machthaber für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden, nennt er "Krönung des Menschenrechtsschutzes" und "lobenswerte Entwicklung des Völkerrechts".
Effizienz und schleppende Arbeit
Ein weiterer Kritikpunkt, der auch aus Moskau gekommen ist, ist die Ineffizienz des Strafgerichtshofs. "Die Arbeit wirkt teilweise sehr schleppend", bestätigt auch der Ex-Richter des Jugoslawien-Tribunals Höpferl. Aber solche komplizierten Fälle könnten eben nur mit einer detailreichen Arbeitsweise aufgeklärt werden.
Die erste Verhandlung fand im Jänner 2009 gegen den ehemaligen kongolesischen Rebellenführer Thomas Lubanga. Erst nach 220 Verhandlungstagen und 62 Zeugen wurde Lubanga wegen der Rekrutierung von Hunderten Kindern als Soldaten im Kongo zu 14 Jahren Haft verurteilt. Im Verfahren gegen Jean-Pierre Bemba benötigten die Richter mehr als fünf Jahre für ein Urteil. Der ehemalige Vizepräsident der Demokratischen Republik Kongo wurde schließlich im März 2016 wegen Kriegsverbrechen schuldig gesprochen. Bemba kommandierte 2002 und 2003 Milizionäre, die in der benachbarten Zentralafrikanischen Republik folterten und mordeten.
Höpfel betont allerdings, dass in manchen Ländern kaum der Hauch einer Chance bestehe, gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher und ihre Entourage juristisch vorzugehen. "Sie müssen vor einem Verfahren keine Angst haben, in den meisten Fällen stehen sie über dem Gesetz", sagt er. Deshalb sei der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag so wichtig. "Das Völkerrecht und die Unabhängigkeit sind unheimlich für die Machthaber. Das tut ihnen weh."
Zurück ins London 1998: Augusto Pinochet ist das erste ehemalige Staatsoberhaupt, das im Ausland verhaftet wird, mit dem Ziel ihn an ein Drittland auszuliefern. Die Welt ist geschockt, die Ereignise überschlagen sich. Vor der britischen und spanischen Botschaft in Santiago de Chile kommt es zu Straßenschlachten zwischen Pinochet-Anhänger und der Polizei. Unterdessen feiert die Sozialistische Partei die Festnahme des Ex-Diktators.
Immunität aufgehoben, ungestraft gestorben
Dass der 82-Jährige nun nicht ausreisen darf, ist für viele Beobachter überraschend. Seine Besuche in Großbritannien in den Jahren 1995 und 1996 lösten nur Emotionen bei Menschenrechtsaktivisten aus. Auch 1994, als der Chilene Rüstungskonzerne in Tschechien besuchte, beschwerten sich Politiker kaum. Damals trat er allerdings als potentieller Waffenkäufer auf und nicht als Patient nach einer Operation.
Nach 503 Tagen britischer Haft wird Pinochet aus gesundheitlichen Gründen in seine Heimat abgeschoben. Er verliert seine Immunität und muss sich vor nationalem Gericht verantworten. Zu einem Urtei kommt es aber nie. 2006 stirbt Pinochet in Santiago de Chile - ungestraft.