Briten-Zugeständnisse auf dem Prüfstand
Am Donnerstag soll ein Paket geschnürt werden, um einen EU-Austritt der Briten zu verhindern. Tritt es in Kraft, hat es sozialpolitische Folgen für alle. Premier David Cameron muss sich am Dienstag auf eine heikle Konfrontation im Europäischen Parlament einstellen. Am Vormittag ist ein gemeinsames Treffen Camerons mit Spitzenparlamentariern vorgesehen. Auch mit Parlamentspräsident Martin Schulz wird Cameron reden. Die Linie des Parlaments ist klar: Keine Zugeständnisse, die den EU-Vertrag, etwa die Personen-Freizügigkeit und das Prinzip der Nichtdiskriminierung, verwässern.
EU-Ratspräsident Donald Tusk, der den vorläufigen Text mit Cameron verhandelt hat, wirbt bei Ost-Europäern, aber auch in Frankreich für eine Zustimmung zum Briten-Pakt. Diese Länder wollen keine Sozialkürzungen für ihre Bürger akzeptieren. „Das Risiko eines Bruchs (in der EU) ist real“ und „was zerbrochen ist, kann man nicht reparieren“, warnt Tusk in Bukarest.
Nach einem Treffen Camerons mit Frankreichs Präsident Francois Hollande Montagabend, hieß es, Paris wünsche eine Einigung, um einen "Brexit" zu verhindern.
Zum Showdown mit den Briten kommt es beim EU-Gipfel.
Der KURIER beantwortet die heiklen Fragen, die den Bereich "Sozialleistungen und Freizügigkeit" betreffen.
Was bedeutet die "Notbremse" bei Sozialleistungen für EU-Ausländer? Was ermöglicht der Mechanismus, den London unbedingt will?
Die Voraussetzung für ein potenzielles, zukünftiges Inkrafttreten der Regeln ist die Mitteilung Großbritanniens, bei der EU verbleiben zu wollen. Das passiert, wenn sich die Mehrheit der Briten beim Referendum für den Verbleib Großbritanniens in der EU aussprechen. Die Staats- und Regierungschefs sowie die Europäische Kommission sichern dann zu, dass in diesem Falle spezifische Probleme des britischen Wohlfahrtsstaatsystems (hohe "in-work benefits", das sind Lohnzuschüsse für Niedrigverdiener; eine Art Negativsteuer) im Rahmen einer Änderung des Sekundärrechts berücksichtigt werden. Dafür muss die EU-Kommission den Vorschlag machen, Rat und EU-Parlament entscheiden darüber gemeinsam. Im EU-Parlament heißt es jetzt vonseiten der Verhandler (zum Beispiel von Elmar Brok, CDU), dass es für die "Notbremse" keine Mehrheit geben würde. Diese "Notbremse" sieht die Möglichkeit vor, für aus dem EU-Ausland zuziehende Arbeitnehmer in-work benefits für vier Jahre zu kürzen. Erst nach vier Jahren würden sie die gleichen Rechte wie Briten haben. Großbritannien und Irland haben ein spezielles Sozialsystem. In der Praxis kämen die Vorschläge daher wohl nur in Großbritannien und Irland zur Anwendung.
Ist die Ausnahmeregelung für vier Jahre fix?
Nein. Es kann länger oder kürzer sein.
Kann Großbritannien auch Kindergeld, Schulgeld, Wohnungs- und Gesundheitsbeihilfen kürzen oder zur Gänze streichen?
Ja, auch das wäre den Briten für eine bestimmte Zeitspanne erlaubt.
Können auch andere EU-Staaten die "Notbremse" übernehmen? Wenn ja, unter welchen Voraussetzungen?
Im Prinzip ja. Die britische "Notbremse" gilt für alle, sagt Ratspräsident Tusk. Dafür müsste die Verordnung 492/2011 über die Freizügigkeit von Arbeitnehmern in der EU geändert werden. Diese Änderung würde dann für alle Länder gelten. Auch sie könnten die "Notbremse" ziehen, wenn sie beweisen können, dass ihr Sozialsystem durch massiven Zuzug oder große Arbeitslosigkeit unter Druck stehen. Wie gesagt: Der Zugang zu bestimmten Sozialleistungen kann nur unter spezifischen Rahmenbedingungen (starker Pull-Faktor am Arbeitsmarkt, starke Betroffenheit etc.) eingeschränkt werden. Jedenfalls muss die Maßnahme zeitlich befristet sein.
Kann Österreich Sozialleistungen für EU-Ausländer kürzen?
Ja, wenn diese Flexibilität gemeinsam von Rat und EU-Parlament beschlossen werden. Geht das Briten-Paket durch, kann die Auszahlung der Familienbeihilfe bzw. des Kindergeldes auf das Niveau des Mitgliedslandes indexiert werden, in dem das Kind oder die Kinder leben. Das setzt eine Änderung der Verordnung 883/2004 voraus. Für andere Sozialleistungen gilt das eher nicht.
Kann die Freizügigkeit der Arbeitnehmer eingeschränkt werden?
Ja. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit kann auf Basis bestimmter Faktoren eingeschränkt werden wenn die öffentliche Sicherheit oder Gesundheit gefährdet sind. Sie kann auch eingeschränkt werden, wenn der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit im öffentlichen Interesse ist. Dafür muss Artikel 45 des EU-Vertrages geändert werden.