Fantasien erforschen: Woran denken Frauen, wenn sie an Sex denken?
Von Anya Antonius
Als Nancy Friday 1973 ein Buch mit dem unverfänglichen Titel „My Secret Garden“ (Mein geheimer Garten) veröffentlichte, war die Aufregung groß. Immerhin handelte es sich um eine Sammlung hunderter sexueller Fantasien. Skandalöser noch: Sexueller Fantasien von Frauen. Obwohl der Band mitten in den Umbruchzeiten der sexuellen Revolution erschien, schockierte er die Gemüter und musste sich den Vorwurf gefallen lassen, sowohl pornografisch als auch unwissenschaftlich zu sein.
Schon als die Autorin im Freundeskreis die Idee zum Buch äußerte, stieß sie – zumeist auf Männerseite – auf ungläubiges Entsetzen: „Frauen haben keine sexuellen Fantasien. Sie brauchen keine, sie haben uns.“ Und auch den Frauen selbst fiel es oft schwer, sich Friday im Gespräch zu öffnen. Dabei ging es der damals 40-jährigen Autorin nie um eine Analyse oder gar eine Bewertung der ihr anvertrauten Erzählungen: „Ich wollte, dass eine Frau mit Fantasien nicht mehr das überwältigende Gefühl hat, nur sie alleine hätte jene willkürlichen und oft auch ungebetenen Gedanken“. Denn das „Haus der Fantasie“, wie es Friday nennt, hat viele Zimmer – und in jenen wartete auf die Leserschaft der nächste Schock.
Unkontrollierbar
Denn dass sich Frauen auch tabubrechenden Gedanken hingeben – Masochismus, Domination, Sex mit Fremden, mit Tieren, Prostitution – entsprach so gar nicht dem damals vorherrschenden Frauenbild. Die Erkenntnis, so radikal wie simpel, lautete: Frauen sind, genau wie Männer, sexuelle Wesen – samt, manchmal grenzüberschreitender, Fantasien. Dass das einiges an Zündstoff enthielt, verwundert nach einem Blick zurück kaum. Denn galt die Frau vor den Zeiten der Aufklärung noch als enthemmtes, zügelloses Wesen, wurde ihr danach jegliche sexuelle Begierde abgesprochen oder pathologisiert. Der Psychiater Richard von Krafft-Ebing schrieb 1896 etwa: „Bei Frauen, die geistig normal entwickelt und wohlerzogen sind, ist das sinnliche Verlangen ein geringes.“
Für Sexualberaterin und Beziehungscoach Nicole Siller ist die Erklärung, warum die Lust der Frau „immer beschnitten, unterdrückt und bewertet wurde“ ganz einfach, wie sie im Gespräch mit dem KURIER erklärt: „Frauen mit einer lustvollen Sexualität emanzipieren sich auch im realen Leben und lassen sich nicht so leicht unterordnen.“ Dabei können Fantasien für ein erfülltes Sexualleben eine wichtige Rolle spielen und inspirierend wirken.
Freiheit der Gedanken
Für die Expertin gilt: Jede Fantasie sollte erlaubt sein. Oft genug lassen sich Frauen nämlich davon verunsichern. Siller erzählt: „Eine Frau in einem meiner Kurse meinte einmal: ,Ich bin Feministin, mir ist Gleichberechtigung extrem wichtig. Aber wenn ich mir vorstelle, einfach sexuell benützt zu werden, törnt mich das an. Das ist doch widerwärtig!’“ Als das Thema dann in der Gruppe besprochen wurde, erkannte sie aber, dass diese Fantasie so anregend ist, weil ihr dabei jegliche Verantwortung abgenommen wird – gerade für Frauen, die unter Mehrfachbelastung stehen, eine entlastende Vorstellung.
My Secret Garden
In hunderten Gesprächen sammelte Nancy Friday (1933 - 2017) die intimsten Gedanken von Frauen. Um ein möglichst breites Spektrum weiblicher Sexualität abzudecken, schaltete sie auch Inserate in Zeitungen und rief Frauen dazu auf, ihr zu schreiben. Die Interviews und Zuschriften fasste sie anonymisiert in ihrem Buch zusammen, das sich millionenfach verkaufte. Mit „Forbidden Flowers“ (1975) und „Women on Top“ (1991) führte sie die Reihe fort
Dear Gillian
Noch bis 28. Februar haben alle, die sich als Frau definieren, die Möglichkeit, anonym ihre persönliche Fantasie einzusenden. „Beginnen Sie Ihren Brief mit ,Dear Gillian’ und lassen Sie Ihrer Vorstellungskraft freien Lauf“, erklärt Schauspielerin Gillian Anderson, die das Buchprojekt kuratiert. Der inklusive, globale Zugang solle offenlegen, wie weit die Gesellschaft seit 1973 gekommen sei: Weitere Infos und Teilnahme unter www.deargillian.com
Offenheit
Oft genug sind, merkt auch Friday an, weibliche Fantasien von Gefühlen der Scham und Schuld begleitet. „Das Problem sind die Glaubenssätze, die den Frauen durch die Gesellschaft oder die Erziehung mitgegeben werden“, sagt Siller. Ein Klassiker: „Als anständige Frau/als Mutter tut so man so etwas nicht.“ Zu erkennen, welche dieser Dogmen man mit sich herumträgt, sei ein wichtiger erster Schritt auf dem Weg zu einem freundschaftlicheren, offeneren Umgang mit der eigenen Sexualität und Wünschen.
Eines steht fest, sagt die Expertin: „Befasst man sich mit seinen Fantasien, fällt es einem leichter, auch mit dem Partner oder der Partnerin darüber zu sprechen.“ Und diese Sprachlosigkeit zu überwinden, sei immer positiv. Es könne auch helfen, die Fantasien einmal niederzuschreiben, meint Siller: „Es macht sehr frei, sich diese Gedanken auch einmal vor Augen zu halten, sie einmal zu lesen.“
Dear Gillian
Eine Gelegenheit dazu bietet sich in diesen Tagen. Schauspielerin Gillian Anderson, unter anderem bekannt aus Serien wie „Akte X“, „The Fall“ oder „The Crown“, lädt Frauen und alle, die sich als Frau definieren, dazu ein, ihre sexuellen Fantasien niederzuschreiben und anonym einzusenden. Diese würden dann zu einem Buch zusammengefasst, das, so schreibt sie im Guardian, „ein My Secret Garden für das 21. Jahrhundert“ werden solle. Inspiriert wurde die überzeugte Feministin dazu von ihrer Rolle als Sextherapeutin in der Netflix-Erfolgsserie „Sex Education“, für deren Vorbereitung sie Fridays Klassiker las.
Entwicklung
Ein halbes Jahrhundert ist seit dessen Erscheinen vergangen. „Heute leben wir, Gott sei Dank, in einer anderen Welt“, schreibt Anderson. Dass Frauen sexuelle Wesen sind, schockiert heute wohl niemanden mehr. Doch wie haben die Entwicklungen der vergangenen 50 Jahre aber die sexuellen Fantasien von Frauen beeinflusst?
Diese Frage stellte sich auch Nicole Siller vor wenigen Jahren. Sie startete dazu eine Umfrage: „Da waren die Klassiker drinnen: Sex mit mehreren Männern, gefesselt, mit Frauen, mit verbundenen Augen.“ Es kamen aber auch Aussagen wie: „Ich will einmal umarmt werden“. Andere träumen von „wertschätzender, liebevoller, humorvoller Kommunikation auf Augenhöhe“, sagt Siller. „Da frage ich mich manchmal schon, wo wir heute stehen im Schlafzimmer.“ Die Bedürfnisse hinter den Fantasien, egal wie diese aussehen, sind eben einfach nur sehr menschlich.