Darf man bei Rot über die Ampel gehen, wenn kein Auto in Sicht ist?
Die Ampel sagt uns mit ihrem Licht, darf ich jetzt gehen oder nicht? Mit diesem Satz haben Generationen von – mittlerweile wohl Ü-30 – Fußgängerinnen und Fußgängern das Verhalten im Straßenverkehr gelernt. Freilich untersagt das rote Licht das Queren der Straße.
Helmi, also jene TV-Kultfigur, die den eingangs erwähnten Satz prägte, versuchte eifrig, mit seinen Weisheiten für Sicherheit auf den Straßen des Landes zu sorgen. Ein Blick auf den Alltag an der Fußgängerampel zeigt jedoch: In den Köpfen vieler sind seine Lehren längst verhallt.
In der heimischen Hauptstadt gehört es etwa schon fast zum guten Ton, bei roten Ampeln einfach los zu spazieren. Gesetzlich ist die Sache klar: Laut Straßenverkehrsordnung muss man bei Rot stehen und darf nur bei Grün gehen. Ansonsten droht eine Verwaltungsstrafe. Doch wo kein Kläger, ist kein Richter.
Kein soziales No-Go
Letzteres ist ein Grund, warum sich Passanten überhaupt über die Ampelregel hinwegsetzen, weiß Verkehrspsychologin Bettina Schützhofer. "Unser Verhalten orientiert sich nicht nur an formellen Regeln und Gesetzen, sondern auch an der informellen sozialen Norm." Das Gesetz sagt also: Es ist verboten. Die soziale Norm sagt: Es machen viele. Studien zeigen außerdem: Je länger die Rotlichtphase an einer Ampel dauert, umso mehr Rotlichtdelikte gibt es.
Paradox ist das vor allem deshalb, weil die überwiegende Mehrheit der Verkehrsteilnehmer Regeln im Verkehr begrüßt und diese auch als wichtig ansieht, betont Schützhofer. "Sobald man es aber eilig hat oder wenig Verkehr ist, nimmt man sich heraus, es anders zu machen und besser zu wissen – und quasi situationselastisch zu handeln", sagt die Expertin.
Auch der praktische Vorteil, schneller auf der anderen Straßenseite zu sein, verstärke das bewusste Missachten roter Ampeln. "Außerdem hat der Gesetzesbruch in den allermeisten Fällen keine Konsequenzen. Je öfter man der Situation straffrei entgeht, desto geringer wird das schlechte Gewissen", sagt Schützhofer. Es wird zum normalen Verhalten.
Stichwort Konsequenzen: Die hat das gesetzeswidrige Ampelqueren tatsächlich nur sehr selten. Und das "geht auch ganz gut in Ordnung", meint Christian Piska, Verkehrsrechtsexperte vom Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien. "In den meisten Fällen wird sich ein Fußgänger, der sich gegen das rechtmäßige Handeln entscheidet, vergewissern, dass ihm dadurch keine Gefahr droht und er auch andere damit nicht stört."
Vom Kavaliersdelikt zur moralischen Verfehlung
Spätestens, wenn Kinder an der Ampel anwesend sind, kommt die Moral ins Spiel. Für die Klinische Psychologin und Psychotherapeutin Renate Sachs vom Fachbereich Psychologischer Dienst und Inklusion der Stadt Wien steht fest: "Als Fußgänger bei einer roten Ampel stehen zu bleiben, ist eine Verantwortung, die jeder als Teilnehmer im Straßenverkehr trägt. Man sollte prinzipiell nicht in Anwesenheit oder Sichtweite von Kindern bei roter Ampel eine Straße queren."
Aber motiviere ich fremde Kinder mit meinem Regelbruch wirklich unmittelbar zum Nachmachen? Wie sehr man mit dem eigenen Verhalten jenes des Kindes prägt, hängt laut Sachs von unterschiedlichen Faktoren ab. "Je jünger das Kind ist, desto stärker lernt es anschaulich und desto eher imitiert es das Verhalten von Erwachsenen, ohne dieses zu hinterfragen."
Bis zum Vorschulalter wird dieser Nachahmungseffekt immer schwächer, "stattdessen fragen Kinder dann vermehrt nach dem 'Warum' und versuchen Situationen verstandsmäßig zu erfassen". Je näher die Person dem Kind emotional steht, desto eher wird es das Verhalten dieser außerdem nachmachen.
Und wie geht man als Elternteil damit um, wenn ein fremder Passant vor den Augen des eigenen Kindes bei Rot die Straße quert? "Man sollte dem Kind mit Nachdruck erklären, dass dieses Verhalten gefährlich und verboten ist und bestraft wird. Keinesfalls darf man die Sache bagatellisieren oder mögliche Gründe bzw. Ausreden, etwa 'Der Mann hatte es wohl eilig', suchen. Womöglich denkt das Kind dann, wenn es einmal selbst in Eile ist, nämlich, dass es in Ordnung ist, bei Rot über die Straße zu laufen."
Wir halten fest: Wer ein gutes Vorbild sein will, hat sich an Helmis Leitsatz zu halten. Wer dies nicht tut, hat wohl ohnehin schon mit den strengen Blicken anderer Fußgänger Bekanntschaft gemacht – und das vollkommen zu Recht.
Weniger eine Gewissens- und vielmehr eine Wissensfrage ist, wie weit eine rote Ampel überhaupt gilt. Experte Piska bringt Licht ins Dunkel: "Die Straßenverkehrsverordnung mag ausladend und stellenweise unübersichtlich sein, hier ist sie jedoch klar: Ein Schutzweg ist jedenfalls zu benutzen, wenn man nicht weiter als 25 Meter davon entfernt ist."
Selbstbestimmt statt überreguliert?
Abseits des moralischen Dilemmas stellt sich für Jurist Christian Piska immer öfter die Frage, "wie weit man den Verkehr denn noch regulieren soll"? Denn: "Die massive Regulierung führt dazu, dass die Menschen nicht mehr sensibilisiert sind, auf Gefahren zu achten, oder diese erst gar nicht mehr wahrnehmen."
In einer Gesellschaft, die neben dem Gut der Sicherheit auch jenes der Eigenverantwortung hochhält, ist das Straßenqueren bei Rot also jedenfalls nicht zu verteufeln.
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