Kolumnen

Kralicek geht essen: Die Werte der Wirte

Globale Finanzkrisen sind schwer zu begreifen. All das verlorene Geld müsste doch immer noch irgendwo sein, denkt der Laie und wundert sich. Ähnlich verhält es sich mit den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie. Relativ einfach zu beantworten ist nur die Frage, wo das ganze Geld eigentlich ist, das die Wirte in den vergangenen Wochen verloren haben: Das ist bei uns, den Gästen. Wir haben nämlich deutlich weniger ausgegeben, weil wir nicht dauernd zum Wirten gerannt sind. Wenn viele jetzt trotzdem die Grenzen ihres Überziehungsrahmens ausloten, hängt das damit zusammen, dass auch ihre eigenen Geschäfte durch das Virus stark beeinträchtigt waren oder sind. Oft machen die Verluste noch mehr aus als das, was sie sich durch all die entgangenen Wirtshausbesuche erspart haben!

Viel wurde und wird über die Leiden und Nöte der Wirte gesprochen. Sie bekommen Überbrückungskredite und Finanzspritzen, sogar die Schaumweinsteuer wird ihnen erlassen. Das ist auch richtig so, diesen guten Leuten muss selbstverständlich geholfen werden. Aber wieso redet eigentlich niemand über die Gäste, die es im Shutdown weiß Gott auch nicht leicht hatten?

Sie mussten selbst kochen, manche zum ersten Mal überhaupt. (Was dabei herauskam, war oft entsprechend schwer verdaulich.) Sie mussten ganz alleine trinken, manche zum ersten Mal seit damals an der Mutterbrust, und das auch noch ohne „letzte Runde“. (Was dabei herauskam, war auch nicht immer schön anzusehen.) Und sie mussten ihre Stammtischtheorien ungefiltert in den sozialen Medien verbreiten. (Okay, das haben die meisten leider auch vor Corona gemacht.) So gesehen, sind die Gasthaus-Gutscheine, die jetzt an 950.000 Wiener Haushalte verschickt werden sollen, auch als eine Art Resozialisierungsmaßnahme zu verstehen. Die Menschen sollen diesmal halt nicht weg von der Straße, sondern raus aus ihren Esszimmern geholt werden.

Vielen ist in der Krise überhaupt erst bewusst geworden, wie wertvoll das Gasthaus für ihr Leben ist. Was aber macht es so attraktiv? Das Essen selbst ist es nicht unbedingt; mindestens so wichtig wie die kulinarischen Werte eines Gasthauses sind die sozialen. Für Allein- stehende bietet es die wohltuende Gelegenheit, in Gesellschaft einsam zu sein. Wer Familie hat, schätzt das Gasthaus als geschützten Ort, an dem Fragen wie „Willst du um diese Zeit wirklich noch was essen?“ niemandem über die Lippen kommen würden. Dafür gibt es im Gasthaus aber auch keinen Nachschlag. Dass das daheim anders ist, merken alle, die jetzt endlich wieder aus der Jogginghose geschlüpft sind – und in die richtigen Hosen nicht mehr reinpassen.

Es gibt viele gute Gründe, ins Gasthaus zu gehen. Ab sofort auch diesen: Je mehr wir jetzt beim Wirten liegen lassen, desto mehr ersparen wir uns dann bei der nächsten Pandemiewelle.