Nachwuchs-Theaterbewerb: Wenn befreite Haare zu tanzen beginnen
Von Heinz Wagner
Ob die lange Zeit der geschlossenen Friseur-Geschäfte Schuld an den haarigen Entscheidungen der Jury der fünften Ausgabe von „Try Out!“ im Dschungel Wien war? Dazu weiter unten. ;)
Das „Ausprobieren“-Format fördert junge, neue Theater- und Performance-Künstler_innen für junges Publikum – in einem mehrstufigen Prozess. Zunächst einmal werden Gruppen bzw. Einzel-Performer_innen eingeladen, Konzepte einzureichen. Im vergangenen Jahr – wegen eh schon wissen, verschob sich zeitlich alles – gab’s 31 Einreichungen. Daraus wählte die Jury acht Produktionen aus, die 10-minütige Teaser entwickeln sollten/konnten/durften.
Sechs der acht Appetit-Häppchen wurden vor wenigen Tagen auf der großen Bühne im Dschungel vor Jury, den entsprechenden Regisseur_innen und ganz wenigen Außenstehenden wie dem Kinder-KURIER-Reporter gezeigt. Zwei weitere – eine Performance aus Deutschland, eine aus Spanien – wurden per Video eingespielt, samt kurzer Online-Live-Begegnung. – Fotos mit kurzen Beschreibungen aller acht weiter unten.
Auswahl
Aufgabe der jeweiligen, jährlich teilweise wechselnden Try-Out!-Jury: Drei Performances auszuwählen, die dann als Artists in Residence ihre Werke weiter entwickeln und nach einigen Monaten 20-minütige Stücke zeigen, aus denen eines ausgewählt wird, um mit ausreichender finanzieller Unterstützung eine abend- oder gegebenenfalls bei einer Kinderproduktion vormittagsfüllende Aufführung zu erarbeiten. Jurys haben’s – egal wo auch immer – meist nicht einfach mit ihren Entscheidungen, diesmal schlugen die Juror_innen aufgrund der Qualität gezeigter Performances vier Stücke vor – die in der doppelten Länge des bisher Gezeigten am 1. Mai – so Corona will – gezeigt werden:
- BLOP / Little Failures (ab 5 Jahren) von Esa Gente; Performance: María Casares
- Only Part (ab 15 Jahren): Konzept, Performance: Shahrzad Nazarpour
- {MUND AUF} show your teeth (ab 12 Jahren): Konzept, Performance: Tanja Wehling, Cali Kobel
- capillus, crinis, coma (ab 12 Jahren) Idee, Choreographie: Naïma Rabinowich; Performance: Maira Horvath, Kirin España
Zurück zur Einleitung. In zwei dieser vier Auswahl-Performances spielen Haare eine zentrale Rolle. Wer Latein hatte oder es sich aus Kapillar-Systemen herleiten konnte, hat’s zumindest für eine schon „erraten“. Wobei die beiden anderen Begriffe, wenngleich „crinis“ auch verfilzt heißt, für Körperbehaarungen unterhalb des Kopfes von Bart bis Achsel-, und andere Haare und Härchen stehen.
Körperbehaarungen
Die beiden Performer_innen Maira Horvath und Kirin España entdecken und untersuchen in "capillus, crinis, coma" (ab 12 Jahren; Idee, Choreographie: Naïma Rabinowich) ihre gegenseitigen Körperbehaarungen, die sie live auch abrasieren (Achselhaare) oder weg-waxen (Beine). Und sie thematisieren, ohne auch nur ein Wort zu sagen, dass Haare am Körper noch immer – oder schon wieder – unterschiedlich begutachtet und bewertet werden, je nachdem ob sie auf einer Frau oder einem Mann wachsen. Genau darum gehe es ihr auch, so die Regisseurin und Erfinderin dieser Performance zum Kinder-KURIER. Nicht zuletzt aus Beobachtungen und Erlebnissen im privaten Bereich der Mitwirkenden habe sich die Aktualität des Themas sogar verstärkt,
Ein fast poetischer und ungewöhnlicher Moment ist jene Passage ihres tänzerischen Spiels, bei dem sie beide ihre langen Haare fast ineinander verflechten und so eng verwoben sind, bei der folgenden Entfernung voneinander sie aber noch immer mit ihren Haaren verbunden sind.
Die lateinischen Wörter seien nur ein Arbeitstitel, so Naima Rabinowich, „wenn ich mich mit einem Thema beschäftige, dann vertief ich oft zuerst in die wissenschaftlichen Begriffe dazu“, so die junge Künstlerin zum KiKu.
Verdecken, enthüllen, tanzen
Für die zweite haarige Produktion – Only Part - spielt der Friseur_innen-Lockdown jedenfalls definitiv keine Rolle. Shahrzad Nazarpour lässt ihre uuuurlaaaangen Haare sozusagen tanzen – Kopf- und vor allem gar nicht zu üppige Handbewegungen und sie fliiiegen, tanzen voll befreit. Zuvor hatte sie die Künstlerin unter mehr als einem halben Dutzend Schals und Tüchern als überdimensionalem Hijab versteckt, um sie hernach wieder zu enthüllen.
„Das waren nur wenige Tücher, bei der Vollversion werden es viiiiel mehr sein“, verrät sie dem Kinder-KURIER und deuten mit den Armen einen ziemlich großen Berg über ihrem Kopf an. Nazarpour liebt Tanz. Das durfte sie als Kind in Hamedan (Iran) nicht wirklich ausüben, „weil das bei uns generell und für Frauen besonders untersagt ist. Wir haben dann halt Theater gemacht und alles Mögliche eingebaut“, so deutet sie Schlupflöcher an. Nach einem Bachelor-Studium in Teheran studiert sie nun seit einem Jahr in Wien an der Kunstakademie. Das Spiel und der Tanz der befreiten Haare ist für Shahrzad Nazarpour aber bei weitem nicht auf den natürlichen Kopfschmuck beschränkt.
Zeig deine Zähne
Vordergründig körperlich – und doch mit Hintergedanken – geht’s in einer weiteren der vier ausgewählten Produktionen zu. Aber das ergibt sich schon aus dem Titel {MUND AUF} show your teeth. Also, zeig die Zähne – und das versteht sicher jede und jeder, dass es da um mehr als die zu putzenden Beißwerkzeuge im Mund geht ;)
Die beiden Performerinnen Tanja Wehlig und Cali Kobel aus Deutschland, die auch die Idee hatten, mixten für das Video, das sie für den Bewerb übermittelten schräg und beinahe trashig skurille Situationen, in denen sie Zähne im wortwörtlichen Sinn zeigen, mit unterschiedlichster, teils mitreißender, Musik zusammen. Zehn Minuten, in denen einiges zu Lachen war – also auch Zähne zeigen im minimierten „Publikum“.
Fehler erwünscht
Das einzige Stück, das tatsächlich ein junges Publikum hatte, war „Blop/Little Failures“, das via Video aus Spanien zu sehen war. In einer großen leeren Halle hatte María Casares in einer nicht ganz harten Lockdown-Zeit vor jungen Kindern gespielt. Sehr clownesk tanzt und spielt sie fast wortlos und so manches scheint ihr dabei nicht zu gelingen. Sogar ihr Kleid ist ziemlich nass – was sich nach und nach auf dem Boden sichtbar zeigt.
„Blop“ von Esa Gente (Sound-Design: Genzo P; Kostüme: Alexandra Surugiu) für Zuschauer_innen ab 5 Jahren ist ein witziges Loblied auf Fehler, auf Scheitern, auf Hinfallen und wieder Aufstehen
Über die weiteren vier Stücke, die es in die erste Runde des aktuellen „Try Out!“ geschafft haben, hier unten
"Ein ? für die Langeweile"
Mit teils überdimensionalem Spielzeug will diese Performance eine Lanze für Spielen in und aus der Muße heraus. Auf der Bühne finden sich nur wenige Spielsachen – und so schafft es die Spielerin (Lisa Bunderla) aus zwei riesigen Mikadostäben alles Mögliche zu „zaubern“ – sie in Kampfinstrumente ebenso zu verwandeln wie in riesige Stoßzähne. Ähnlich agiert sie mit anderen der wenigen Dinge – die ihr Raum und Zeit geben, ihre Fantasie ausleben zu können (ab 4 Jahren; Konzept und Regie: Akino Distelberger; Musik: Julia Schwendinger, Monika Wippl; Bühnenbild: Martina Pöll).
Zimmer aufräumen
Ebenfalls für die Jüngsten konzipiert ist/war „Zimmer aufräumen. Ich zähl bis 3!“ Der Titel sagt fast schon alles, worum es geht – um die seltsame Metamorphose von Kindern, die es nicht besonders schätzen, aufräumen zu müssen, sondern lieber spielen zu wollen, zu Erwachsenen, die von ihren Kindern – und so weiter.
Ziemlich witzig setzen das Felix Kislich und Simon Vith (Konzept, Regie und Performance) in Szene. Wird, wenn es weiterentwickelt würde, sicher gut für Publikum ab vier Jahren funktionieren. Wahrscheinlich auch das Fragzeichen für die Langeweile. „Try Out!“ sucht allerdings neue, durchaus unkonventionelle Formen darstellender Kunst, weshalb es nicht unter diesem Programm weiterentwickelt werden kann. Was aber nicht entmutigen sollte!
Treffpunkt, oder?
Zwei Frauen auf der Bühne beginnen anfangs direkt auf das Publikum zuzugehen. Und stoppen in ihrem eigenen Tun. Hoppla, es ist ja C-Zeit. Elda Gallo und Jolyane Langlois greifen – übrigens als einzige der acht Produktionen – die seit schon fast einem Jahr bestehende Maxime des physischen, leider oft als soziales – Distanzieren bezeichnete neue Verhaltensweise auf. Und so geht’s in Meeting points (ab 10 Jahren) von Lazuz (Konzept und Regie: Gat Goodovitch) zunehmend ums Spiel zwischen dem Ich-Finden und der Sehnsucht, trotz allem das Du zu treffen.
Xitopia
Ein anderes Thema greift „Menschen ohne Erde“ (ab 7 Jahren) auf. Hier geht’s aber weniger um die sich vielleicht vom Titel her aufdrängende Klimakatastrophe. Das Trio - Theo Emil, William Joop und Iris Omari Ansong -, das auch die Performance entwickelt hat, verlässt die Erde in Richtung Xitopia vor allem wegen des Gesellschaftsklimas. Doch was verspielt harmonisch beginnt, lässt doch nach und nach alte Verhaltensmuster aufpoppen.
Try Out!
Die Weiterentwicklung zu 20-minütigen Performances der vier Auswahlstücke ist geplant für
Den 1. Mai 2021
Dschungel Wien: 1070, MuseumsQuartier
Telefon: (01) 522 07 20-20
Aus den bisherigen vier Try Out!-Runden sind folgende fertige Produktionen hervorgegangen
„Hüpfen“ mit Lazuz
„Pip.“ mit Emmy Steiner
„Planet Sis“ mit Donna & Rosa Braber
„Ocean“ mit Elda Gallo
„Pip“ wurde übrigens mit dem „Stella“, dem Theaterpreis für junges Publikum im Jahre 2019 ausgezeichnet und „Planet Sis“ ist für den aktuellen Stella (2020, verschoben wegen C…) nominiert.