Wählst du noch oder likest du schon?

Immer weniger Menschen machen ihr "Kreuzerl"
Parteien und Wahlen könnten sich bis zum Jahr 2030 grundlegend geändert haben.

Es ist eine Entwicklung, die sich quer durch Europa und schon über Jahrzehnte zieht: Die Mitgliederzahlen in den Parteien sinken, ebenso die Wahlbeteiligung (siehe Grafik). Gleichzeitig manifestiert sich eine Politik-, und, noch stärker, eine Politiker-Verdrossenheit. In einer Umfrage des OGM-Institutes gaben im vergangenen Herbst 78 Prozent der Befragten an, "wenig" bis "gar kein" Vertrauen in die Politik zu haben. Den Politikern selbst vertrauen 85 Prozent "wenig" bis "gar nicht". Ein Tiefpunkt in den bisherigen Befragungen.

Wählst du noch oder likest du schon?

Fehlende Legitimation

Wie lange kann das noch so weitergehen? Wird es in 15 Jahren überhaupt noch Parteien und Wahlen im klassischen Sinn geben? Oder werden wir im Jahr 2030 anstatt eines Kreuzerls am Stimmzettel in der Wahlkabine nur noch per "Daumen hoch" oder "Daumen runter" im Internet abstimmen? Motto: Facebook statt Parteibuch?

Eines scheint klar: Alleine bei Wahlen seine Stimme abzugeben, das ist schon heute für viele Menschen längst nicht mehr genug.

"Die Bürger sind immer weniger bereit zu akzeptieren, dass ihre Repräsentanten Entscheidungen treffen, ohne diese mit der Bevölkerung rückzukoppeln. Die Wahl als alleinige Legitimationsgrundlage politischer Entscheidungen verliert an Akzeptanz." Zu diesem eindeutigen Befund kommen Christina Tillmann und Robert Vehrkamp von der renommierten deutschen Bertelsmann-Stiftung.

Bessere Beteiligung

Die Stiftung hat 2014 eine umfangreiche empirische Studie in Deutschland durchgeführt ("Partizipation im Wandel"). Das Ergebnis: "Wählen alleine reicht nicht mehr." Drei von vier Bürgern wünschen sich "mehr Möglichkeiten, mitzudiskutieren und möchten über wichtige Fragen selbst entscheiden". Den größten Nachholbedarf gibt es demnach bei direkten Entscheidungen durch das Volk: "Mehr Bürgerbeteiligung stärkt die Demokratie. Während die Bürger in der vielfältigen Demokratie längst angekommen sind, hängen die politischen Eliten noch stärker am repräsentativen System."

Im Nationalrat hat man sich auch schon damit befasst, wie sich das Wahlvolk besser einbinden lässt. Ein Jahr lang tagte die "Parlamentarische Enquete-Kommission zur Stärkung der Demokratie".

Direkte Demokratie

Im Abschlussbericht vom Herbst 2015 findet sich eine Conclusio zur direkten Demokratie: Deren Instrumente "eignen sich insbesondere für kleine Einheiten", also auf Landes- oder Gemeindeebene. Das Argument: Die Menschen sollen vor allem dort mehr mitbestimmen dürfen, wo ihr Alltag direkt betroffen ist. Und für diese Themen sei vorwiegend die Landes- bzw. Kommunalpolitik zuständig.

Noch etwas wird sich ändern: "Die Frage der Person wird in Zukunft eine Rolle spielen", sagt SPÖ-Klubchef Andreas Schieder (siehe Interview). Er geht davon aus, dass das Parlament künftig von "auffallenden Persönlichkeiten" geprägt sein wird.

Fokus auf "Typen"

Denn neben der Stärkung der direkten Demokratie ist das ein Punkt, der sich in vielen Konzepten und Forderungskatalogen findet: Bei Wahlen soll der Fokus künftig stärker auf Personen liegen, die Parteien sollen in den Hintergrund treten.

Die Junge ÖVP etwa hat schon vor ein paar Jahren ein "echtes Persönlichkeitswahlrecht" vorgeschlagen, bei dem 100 direkt gewählte Abgeordnete in den Nationalrat kommen sollen. Damit würde sich die Macht darüber, wer im Parlament sitzt, verschieben: Von der Listenerstellung (in den Hinterzimmern) der Parteien hin zu den Wählern.Und welche Rolle wird das Internet bei all dem spielen? Ebenfalls eine größere als heute. Gut möglich, dass man Volksbegehren per Online-Unterschrift unterstützen kann; dass Bürgerinitiativen über das Internet zu einem Standard-Instrument werden. Eines dürfte sich aber auch bis 2030 nicht geändert haben: "Daumen rauf" wird das Kreuzerl auf Papier wohl nicht so schnell ersetzen.

SPÖ-Klubchef Andreas Schieder im KURIER-Interview über die Zukunft der Demokratie in Österreich.

KURIER: Herr Klubobmann, die Mitgliederzahlen der Parteien sinken seit Jahren stark. Wird es im Jahr 2030 noch Parteien im klassischen Sinn geben – und wie werden sie dann aussehen?

Andreas Schieder: Wenn man fragt, wie Parteien in Zukunft aussehen, dann muss man die Partei in zwei Teile teilen. Der erste: Party in Office, sprich: Abgeordnete, Minister, Administration. Das wird im Wesentlichen so bleiben wie bisher. Der zweite Teil: Party on the Ground. Da werden sich die traditionellen Volksparteien radikal verändern müssen.

Wie wird die Partei der Zukunft aussehen?

Es wird nicht mehr alles in einer Partei passieren. Die Parteien werden Knotenpunkte sein in einem Netzwerk des gesellschaftlichen Lebens. Dafür muss es auch in der Partei weniger um das soziale Zusammenkommen gehen, sondern mehr um die politische Diskussion. Dafür müssen sich Parteien öffnen, beispielsweise gegenüber sozialen Initiativen vor Ort. Das klassische Modell der Vorfeldorganisation ist ein wichtiges Diskursfeld. Aber es wird nicht mehr so sein, dass die Partei bestimmt, was die Vorfeldorganisation denkt. Sondern die Vorfeldorganisation wird ihr eigenständiges Know-how einbringen in die politische Arbeit der Partei. Ein Beispiel: Vor der Bildungsreform haben wir als Klub eine Diskussionsreihe mit Kindern gemacht und sie gefragt, wo und wie sie lernen wollen. Das haben wir mit den Kinderfreunden abgewickelt.

Das heißt, das Sektionslokal wird bald schließen?

Es wird immer Strukturen vor Ort geben. Bürgermeister, Gemeinderäte, Nationalräte, etc. Aber hier müssen wir moderner werden: Neben dem klassischen Sektionslokal gibt es jetzt auch das elektronische Sektionslokal im Internet.

Welcher Typ Politiker wird 2030 gefragt sein?

Jeder, der sich für ein politisches Amt bewirbt, wird sich stärker bewegen müssen in gesellschaftlichen Kreisen und außerhalb der Partei. In Vereinen, bei Town-Hall-Meetings. Die Frage der Person wird in Zukunft eine stärkere Rolle spielen. Für uns als Partei wird es notwendig sein, nicht einen Typus an Personen herauszubilden, sondern unterschiedliche: Wir brauchen den Experten für hochkomplexe Finanzfragen genauso wie den Politiker, der vor Ort glaubwürdig Themen vertreten kann.

Wie ändert sich das Parlament?

Auch das Parlament wird natürlich stärker von solchen auffallenden Persönlichkeiten getragen sein. Da wird man sich daran gewöhnen müssen, dass Politik auch viel mehr von Vorschlägen lebt, die nur zum Anreißen einer Diskussion gemacht werden. Die Frage: Wie sieht das die Partei? wird 2030 nicht immer gleich zu beantworten sein, sondern viel mehr mit einem Diskussionsprozess zu sehen sein. Das wäre auch ein Wunsch bis 2030 für das Regieren: Dass wir in diesem Land zu einer Diskussionskultur finden, die zwischen der Einheit in einer Koalition und dem Streit in einer Koalition den Mittelweg eines vernünftigen Diskurses beschreitet.

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