Wir tickern live: Von Sinn und Unsinn des Tickerns

Der Lkw des Anschlags von Nizza
2016 haben wir so viel getickert wie nie zuvor. Eine Reflexion.

Es beginnt fast immer mit einer kryptischen Nachricht vom Chef. „Wer ist online? Nizza“ zum Beispiel. Das war am 14. Juli um 23:08. Wer da online war, war noch lange wach. Journalist sein, heißt auch ständig in Bereitschaft sein. Besonders, wenn das Medium, dem man den Großteil seiner Zeit und seines Herzbluts schenkt, ein digitales ist. Kein Redaktionsschluss, keine örtliche Abhängigkeit. Veröffentlicht werden kann zu jeder Zeit, von jedem Ort.

Blutüberströmte Leichen im Wohnzimmer

Im Laufe des Jahres wurden die Fragen zu Ansagen. Nicht mehr „Wer legt einen Ticker an?“ „Wer kümmert sich um Facebook?“, sondern: „Ich mach Ticker.“ „Ich facebooke.“ Die Tragödie wurde zur Routine. Meistens saßen wir da auf unseren Sofas, nicht im Büro. Live zu tickern, das heißt nicht nur, die Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Sondern auch, sich die Bilder von blutüberströmten Leichen, von überfahrenen Menschen und fassungslosen Angehörigen, die über die Nachrichtenagenturen und sozialen Medien kommen, ungefiltert ins Wohnzimmer zu holen. Wenn man in einer Nacht wie der von Nizza überhaupt zum Schlafen kommt, schläft man nicht gut.

2016 war das Jahr des Livetickers. Nicht weil er neu ist, getickert wird seit Jahren. Sondern weil es so viel gab, das getickert werden musste. Und weil sich der Ticker mittlerweile endgültig als journalistische Form etabliert hat, vor allem in den deutschsprachigen Medien. „Live“, das verspricht eine Unmittelbarkeit, eben ein Dabeisein. Längst nicht mehr nur bei Anschlägen und Events. „Der Morgen live“ gibt es bei den Kollegen vonspiegel.dejeden Tag,focus.dehat überhaupt den 24-Stunden-Newsticker. Es ist eine Befreiung vom starren Format des Artikels, der von der Zeitung ins Internet wandert; ein Ausdruck der Emanzipation des Online-Journalismus.

Was ist "live"?

Es ist aber auch eine Täuschung. „Live“ impliziert den Redakteur vor Ort, der die Dinge mit seinen eigenen Augen beobachtet und nach bestem Wissen und Gewissen berichtet. Doch „live“ bedeutet beim Tickern in den meisten Fällen: Live vor den Agenturen und den sozialen Medien zu sitzen, nicht vor Ort zu sein. Es ist schlicht unmöglich, um 22 Uhr schnell nach Istanbul zu fliegen um einen Putschversuch zu verfolgen und direkt jede Meldung für den Leser aufzubereiten.

Wir tickern live: Von Sinn und Unsinn des Tickerns
Turkish military stand guard near the the Taksim Square as people wave with Turkish flags in Istanbul, Turkey, July 16, 2016. REUTERS/Murad Sezer
Live zu tickern heißt ins Ungewisse zu arbeiten. Der größte Antrieb ist die Spannung des Moments. So traurig die meisten ungeplanten Geschehnisse sind, so groß ist der Reiz, jede Kleinigkeit darüber zu erfahren – für den Journalisten wie für den Leser. „Nichts Sensationelleres gibt es in der Welt als die Zeit in der man lebt!“, schrieb der „rasende Reporter“ Egon Erwin Kisch bereits 1925. Fast hundert Jahre später rasen die Informationen, nicht mehr die Reporter. Mit dem Ungewissen zu arbeiten, heißt auch, mit dem Konjunktiv zu arbeiten. „Soll“, „habe“ und „sei“ sind die häufigsten Verben. Dabei gehört der Konjunktiv im Journalismus angeprangert.

Eine Achterbahnfahrt der Informationen

„Gewissenhaftigkeit und Korrektheit in Recherche und Wiedergabe von Nachrichten und Kommentaren sind oberste Verpflichtung von Journalisten“, schreibt der Ehrenkodex für die österreichische Presse vor. Wie ein Arzt sich dem Hippokratischen Eid verpflichtet fühlt, ist für Journalisten der Ehrenkodex der Presse oberstes Gebot. Das gilt auch bei einem Ticker. Bei jedem einzelnen Tick. Dennoch sind Ticker von aktuellen Ereignissen oft wie eine Achterbahnfahrt der Informationen. Das zeigte sich einmal mehr bei dem Attentat von Berlin. Der festgenommene Verdächtige war einen Tag darauf komplett unschuldig. Später hieß es, der mutmaßlich schuldige, flüchtige Täter wurde von Kameras vor einer Moschee eingefangen. Nur Stunden später blinkten auf den Smartphones die Alarmmeldungen auf: „Mutmaßlicher Attentäter von Berlin in Mailand erschossen.“

Wir tickern live: Von Sinn und Unsinn des Tickerns
Police secures the area at the site of an accident at a Christmas market on Breitscheidplatz square near the fashionable Kurfuerstendamm avenue in the west of Berlin, Germany, December 19, 2016. REUTERS/Fabrizio Bensch
Wir können, wenn wir tickern, immer nur eine Annäherung an die Wahrheit nach bestem Wissen und Gewissen bieten. Jene Fakten filtern, die sich zum aktuellen Zeitpunkt als gesichert darstellen. Solche, die über Nachrichtenagenturen kommen. Solche, die von der Polizei bestätigt wurden. Wir sind vorsichtig geworden, und das ist gut so. Wir haben bei Berlin noch darauf hingewiesen, dass ein Anschlag nicht bestätigt ist, als diverse Politiker schon von Terrorismus sprachen. Weil wir Fakten berichten wollen, keine Mutmaßungen; so wahrscheinlich diese auch sein mögen.

Was wir wussten und was wir nicht wussten

Aber auch wir sind – zumindest implizit – davon ausgegangen, dass der Mann, der am Abend des Anschlags in Berlin verhaftet wurde, etwas mit der Tat zu tun hat. Es ist eine Gratwanderung, jedes Mal wieder. Und eine Frage der Semantik: Ist ein Putsch, der gerade stattfindet, auch dann einer, wenn er Stunden später scheitert? Wird der Putsch also erst im Nachhinein zum Putschversuch, wenn er dann gescheitert ist, oder hätten wir nie von Putsch schreiben dürfen? Die Entscheidungen werden oft in Sekundenschnelle getroffen.

BeimAmoklauf von Münchenwar die Lage besonders unübersichtlich: Es gab Gerüchte von mehreren Anschlagsorten, die Polizei sprach von einer „akuten Terrorlage“ und fahndete nach drei Verdächtigen – wo der Täter ein jugendlicher Amokläufer war. Längst tot, als die Stadt noch in Panik war. Wir haben berichtet, was die Polizei herausgegeben hat – und vieles davon war falsch.

Impressionismus statt Realismus

Als „Kaleidoskop aus Kurzinformationen“ bezeichnete der deutsche Journalist Stefan Niggemeier Ticker in einem Artikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Der verantwortliche Journalist sammelt die Fakten, wählt die vermeintlich richtigen Meldungen aus, entscheidet, ob etwas berichtenswert oder interessant genug ist, um den Leser zu informieren und bildet damit das Fundament des Tickers. Tweets verschiedenster Menschen - Augenzeugen, Politiker, Korrespondenten und lokaler Journalisten - sorgen für Persönlichkeit. Fotos, egal ob von Amateuren oder Profis, geben dem Ganzen ein Gesicht. Bildlich gesprochen will der Journalist mit einem Ticker ein fotorealistisches Bild à la Gottfried Helnwein malen, das Ergebnis gleicht jedoch eher einem impressionistischen Werk à la Claude Monet - man erkennt das Motiv, die Details sind verschwommen.

Wir tickern live: Von Sinn und Unsinn des Tickerns
ABD0037_20161220 - The heavily damaged front of a truck at Breitscheidplatz in Berlin. According to police, at least 12 people have been reportedly killed and at least 48 injured when a lorry crashed into a local Christmas market in the evening of 19 December 2016. German police suspect the incident may have been a deliberate attack. Photo: Britta Pedersen/ZB/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++

Warum wir trotzdem tickern

Warum tun wir das dann, warum tickern wir überhaupt? Natürlich weil es gut geklickt wird. Natürlich weil es die anderen auch machen. Weil wir nicht sagen können: Bei uns werden sie erst morgen informiert. Aber es gibt auch gute journalistische Gründe; und die kennt jeder, der sich während eines Attentats in den sozialen Medien umgeschaut hat. Die Toten von München waren noch nicht geborgen, da tauchte auf Twitter ein Foto eines Erschossenen in einem Einkaufszentrum auf, angeblich ein Opfer in München. Das Foto stammte aus Afrika, es verbreitete sich dennoch auf Twitter. Die Toten von München waren noch nicht geborgen, da wurde in den sozialen Medien gegen Muslime gehetzt, ein islamistischer Terroranschlag als Fakt gesehen. Qualitätsmedien halten sich auch beim Tickern an Qualitätsstandards. Wir versuchen beim Tickern, dem Voyeurismus Einhalt zu gebieten, wir zeigen keine Toten und Verletzten. Es reicht, wenn wir ein verwackeltes Handyvideo sehen müssen, in dem ein Lkw in eine Menschenmenge fährt; wir werden es unseren Lesern nicht zumuten.

Die Kunst des Tickerns ist das Abwägen zwischen dem Veröffentlichen und dem Zurückhalten von Informationen. Dafür versucht man, alle Kanäle gleichzeitig zu verfolgen. Aus dem Fernseher plärrt ein Nachrichtensprecher, auf dem Bildschirm reiht sich Tab an Tab, Fenster an Fenster. Twitter und Facebook, fünf andere Medien und drei Nachrichtenagenturen, das Redaktionssystem und ein Fotofeed. Eine mediale Überdosis, die es auszuhalten und zu sortieren gilt. Dabei passieren Fehler, keine Frage. Aber wir tun unser Bestes, die Wahrheit zu berichten, die relevanten von den irrelevanten Fakten zu trennen. Bis das Bild nicht mehr verschwommen ist. Und wir schlafen gehen können.

Kommentare