Was ein Steinzeit-Säugling über uns verrät

Überreste eines männlichen Säuglings, Wachtberg in Krems.
DNA-Analysen liefern neue Erkenntnisse über die Herkunft unserer Vorfahren.

Kleine Schädelfragmente, dünn wie eine Eierschale – Anthropologin Maria Teschler-Nicola hatte anfangs kaum Hoffnung, dass sie für eine Analyse reichen würden. Doch aus den kleinen Teilen kam Großes hervor: Die Überreste des Baby-Skelettes gehörten zu einem Buben, der vor 31.000 Jahren am Wachtberg in Krems bestattet wurde. Als Archäologen um Christine Neugebauer-Maresch vom Institut für Orientalische und Europäische Archäologie der Akademie der Wissenschaften 2005 auf die "Zwillinge von Krems" stießen, fanden sie ein Jahr später noch ein Grab. Einen halben Meter entfernt befanden sich die Überreste des Säuglings – in einem sehr schlechten Zustand. Der Druck von fünf Meter Sediment lastete auf ihm und das über Tausende Jahre, erklärt Teschler, die am Naturhistorischen Museum Wien forscht. Die Zwillinge – ein weltweit einzigartiger Fund –, die zu zweit bestattet waren, hatten den Schutz eines Mammut-Schulterblattes. Aus diesem Grund ließen die Forscher den Einzelgrab-Fund "in situ" – "als Ganzes" –, nur eine Probe vom Schädeldach wurde für die DNA-Analyse entnommen.

Und diese zeigte, dass in dem Buben weit mehr Neandertaler-Anteil steckt als im heutigen Menschen. Wie dieser Anteil sukzessive weniger wurde, konnten Forscher um Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig und David Reich von der Harvard Medical School nachweisen. Sie untersuchten 51 Funde von Belgien bis Sibirien, die aus einem Zeitraum von vor 45.000 bis 7000 Jahren datieren. Darunter auch der Säugling aus Krems. Der Anteil an Neandertaler-DNA nahm stetig von sechs auf zwei Prozent ab. So viel tragen heutige Europäer in sich. Wie das passiert ist? Die Forscher erklären es mit natürlichem Selektionsdruck. Die DNA der Knochen sagt auch einiges über die Besiedelung in Europa aus: Die Genvarianten der ersten modernen Menschen, die hier vor 45.000 Jahren gelebt haben, sind in unserer DNA nicht mehr vorhanden. Erst vor etwa 37.000 Jahren zeigten die analysierten Individuen eine ähnliche Abstammung wie wir sie heute haben. Auch der Bub vom Wachtberg gehörte dieser Population an.

Einfluss aus dem Nahen Osten

Und schließlich kamen auch Migranten aus dem Nahen Osten. Allerdings schon viel früher als bisher angenommen. Man ging davon aus, dass dies vor 9000 oder 10.000 Jahren passierte, als die ersten bäuerlichen Kulturen im Osten Europas greifbar waren. "Jetzt mit den Daten zeigt sich, dass dieser Einfluss aus dem Nahen Osten um etwa 5000 Jahre früher eingesetzt hat", sagt Teschler. Migration, so die Expertin, bedeutete nicht, dass Völker oder Populationen in Massen ankamen, sondern Gruppen durch irgendeine Region zogen und das über Jahre verteilt – "wie bei einem Flaschenhalseffekt". Conclusio der Forscher: Wir stammen nicht von den ersten Einheimischen ab, sondern von Altsteinzeit-Migranten aus dem Nahen Osten, schreiben sie im Fachmagazin Nature.

Was die Anthropologin am meisten überraschte: Mit der DNA-Analyse konnte ein kunstgeschichtliches Rätsel gelöst werden. Neben der "Venus von Willendorf" gibt es eine fast idente Figur, die im russischen Kostenski gefunden wurde. Wissenschaftler gingen davon aus, dass sie von einer Population hergestellt wurde, die die 5000 Kilometer Entfernung überwunden hatte. Nun stellte sich heraus, dass diese Menschen genetisch völlig unterschiedlich waren. "Sie sind nicht von hier zu einem anderen Ort gewandert, sondern ihr Wissen verbreitete sich." Wie dieser Kulturtransfer funktioniert haben könnte, ist nicht klar. Das Wissen zur Herstellung dieser Figur wurde wahrscheinlich durch "Zuschauen" vermittelt und verbreitet. Wissen haben die Forscher auch über die Bestattungsriten unserer Vorfahren gesammelt. Im Brustbereich des Säuglings aus Krems fanden sie eine Elfenbeinnadel. Sie sollte vermutlich den Beutel aus Leder oder Fell zusammenhalten, in den er eingewickelt war. Zudem wurde das Kind mit Rötel bedeckt – ein roter Mineralstoff, der auch konservierend wirkt. Was Anthropologin Teschler aus all dem schließen kann: "Die Säuglinge wurden liebevoll und mit viel Aufmerksamkeit bestattet, wie es auch bei Erwachsenen getan wurde. Darüber gab es Zweifel, die sind nun ausgeräumt."

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