Was heißt ...? Kalte Progression

Was heißt ...? Kalte Progression
Ein Teuerungsausgleich bei der Einkommenssteuer wäre nur fair – in der Praxis ist das nicht so simpel, wie es scheint.
Was heißt ...? Kalte Progression
Wer kennt noch das "eiskalte Händchen"? In der morbiden 1960er-TV-Serie "Die Addams Family" machte sich der gruselige Mitbewohner gerne selbstständig und trieb Schabernack. Ähnlich darf man sich die kalte Progression vorstellen: Als Händchen des Finanzministers, das den Steuerzahlern in die Taschen greift. Und das recht heimlich und unschuldig.

Wie kommt das zustande? Wer gut verdient, soll einen höheren Anteil seines Einkommens abführen. Er trägt also überdurchschnittlich viel zur Finanzierung des Gemeinwesens bei: Das wird in den meisten Staaten als fair empfunden.

Deshalb sind viele Steuersysteme progressiv gestaltet: Die Steuersätze steigen mit der Einkommenshöhe an (im Gegensatz zur "Flat-tax", wo für Arm und Reich derselbe Steuersatz gilt). In Österreich wird es mit der Steuerreform 2016 sieben Tarifstufen statt derzeit vier geben – diese reichen dann von null Prozent (Einkommen bis 11.000 Euro jährlich) bis 55 Prozent (ab 1 Mio. Euro). Soweit die ganz normale und durchaus gewollte Steuer-Progression.

Ein "Zuckerl" fällt weg

Dass ein Arbeiter oder Angestellter am Monatsbeginn einen höheren Betrag auf seinem Konto vorfindet, heißt aber noch nicht, dass er sich darum tatsächlich mehr kaufen kann. Einen Teil der Lohnerhöhung fressen die steigenden Preise weg. Deshalb fordert die Gewerkschaft bei den jährlichen Lohnverhandlungen, dass zumindest die Inflationsrate abgegolten wird.

Steigt der Lohn, werden mehr Steuern fällig. Der Arbeitnehmer führt einen höheren Anteil seines Einkommens ab – für Geld, das teuerungsbedingt seine Kaufkraft gar nicht erhöht. Diese Mehrbelastung, die ausschließlich durch den Anstieg des Preisniveaus zustandekommt, nennt man kalte Progression. Was dem Fairnessprinzip, dass die Steuer sich an der Leistungsfähigkeit orientieren soll, widerspricht.

Was heißt ...? Kalte Progression

In Österreich werden die Tarife, Einkommensgrenzen und Steuerabsetzbeträge derzeit nicht an die Inflationsrate angepasst. Es kann also auch passieren, dass ein Arbeitnehmer wegen der Inflation auf die nächsthöhere Tarifstufe geschoben wird.

Dem Fiskus beschert die kalte Progression beträchtliche Mehreinnahmen – in Österreich rund 400 Millionen Euro im Jahr. Ganz automatisch, ohne Steuererhöhung oder Parlamentsbeschluss.

Den Finanzminister mag dieser Geldsegen freuen, für die Wirtschaft ist es eher hinderlich: Die Steuerzahler haben weniger Geld in der Börse, was den Konsum bremst.

Der Anteil der Steuern an den Löhnen steigt also kräftig an, bis er alle paar Jahre (siehe Grafik oben) durch eine Steuerreform gesenkt wird. Das lässt sich wunderbar als Entlastung der Steuerzahler verkaufen – und macht die Abschaffung schwierig: Es fällt ein "Zuckerl" weg, ein Füllhorn, das Regierungen regelmäßig vor Wahlterminen ausschütten können.

Die Beseitigung der kalten Progression wäre "demokratiepolitisch ehrlicher, weil transparenter", sagt Finanzexperte Peter Brandner vom Thinktank Weis(s)e Wirtschaft. Allerdings verliere die Regierung Handlungsspielräume: Politisch, weil Steuerreformen immer Verteilungsaspekte berühren. Und finanziell, weil die Steuerausfälle dauerhaft kompensiert werden müssen.

Berlin plant Entlastung

18 von 30 OECD-Staaten ergreifen schon jetzt regelmäßige Maßnahmen zur Vermeidung oder Abmilderung der kalten Progression. In der Schweiz ist der Bund dazu sogar verfassungsrechtlich verpflichtet, seit 2011 gibt es einen jährlichen Ausgleich. In Deutschland soll es ab 2016 so weit sein: Finanzminister Wolfgang Schäuble bezifferte die Entlastung der Steuerzahler mit 1,5 Milliarden Euro im Jahr.

Was heißt ...? Kalte Progression

Machbar ist es also. Ganz trivial ist der automatische Inflationsausgleich aber nicht. Werden die Tarifstufen nämlich einfach um die Teuerungsrate erhöht, dann verbucht der Staat mehr Steuerausfälle als die kalte Progression tatsächlich ausmacht. "Dabei würde unterstellt, dass jeder Steuerzahler eine Lohnsteigerung mindestens in Höhe der Inflationsrate erhält", sagt Brandner.

Gesamtwirtschaftlich betrachtet sinken die Pro-Kopf-Reallöhne aber – weil immer mehr Beschäftigte in Teilzeit arbeiten.

Und obendrein stelle sich dann die Frage, warum nicht gleich andere staatliche Bezüge – wie etwa Sozialleistungen, das Pflegegeld oder Familientransfers – ebenfalls an die Inflation gekoppelt werden. Nur wo endet das?

Fiskalpolitisch könnte diese Debatte eine "Büchse der Pandora" öffnen. Eine gruselige Aussicht – der Addams Family würde es wohl gefallen.

In Summe 4,9 Milliarden Euro weniger geht von den Arbeitnehmern ab 2016 an den Staat. Die Steuerreform macht das möglich. Wirtschaftsforscher prophezeien allerdings, dass es mit der Entlastung binnen weniger Jahre vorbei sei – wegen der "kalten Progression", also der schleichenden Steuererhöhung.

"Ich hätte über das Aus für die ‚kalte Progression‘ gerne im Zuge der Steuerreform-Debatte diskutiert – und eine Lösung gefunden. Das war mit der ÖVP leider nicht möglich."

Das weiß auch ÖVP-Finanzminister Hans Jörg Schelling. Und so wollen er und ÖVP-Vizekanzler Reinhold Mitterlehner, dass Schluss ist mit der "kalten Progression" – im Jahr 2017: "Das ist eine Möglichkeit, den über die Steuerreform angekurbelten Konsum dauerhaft zu beflügeln."

Der Koalitionspartner will das auch und reklamiert das Copyright für sich. "Ich bin froh, dass die ÖVP jetzt verhandlungsbereit ist – und die gleiche Position wie SPÖ, ÖGB und Arbeiterkammer vertritt", sagte Kanzleramtsminister Josef Ostermayer im ORF-Radio. Und verwies auf einen Vorschlag im Steuerreform-Konzept von Gewerkschaft und AK aus dem Vorjahr. "Nachdem die SPÖ das Papier am Parteitag übernommen hat, gilt natürlich auch, dass wir für diese Maßnahmen gegen die ‚kalte Progression‘ eintreten."

Diese könnte es schon geben, meinen SPÖ-Sozialminister Rudolf Hundstorfer und ÖGB-Präsident Erich Foglar. "Es war bei der Steuerreform nicht umsetzbar", sagt Hundstorfer; die Widerständler benennt er nicht. Foglar tut das via KURIER: "Ich hätte über das Aus für die ‚kalte Progression‘ gerne im Zuge der Steuerreform-Debatte diskutiert – und eine Lösung gefunden. Das war mit der ÖVP leider nicht möglich."

Von der wolle er nun wissen, wie sie den Steuerausfall von 400 Millionen pro Jahr kompensiert. Einsparungen"Mittelfristig durch Einsparungen in der Verwaltung" – hat Schelling gesagt. Foglar dazu: "Bei einer Verwaltungsreform ist entscheidend, was darunter verstanden wird: Rückbau des Föderalismus oder Beseitigen von Doppelgleisigkeiten können sinnvoll sein.

Personalkürzungen im öffentlichen Bereich, das Einsparen der Lohnerhöhungen oder wieder eine sinnlose Diskussion über zwei Stunden Lehrerarbeitszeit sind ebenso ungeeignete Methoden wie Einschnitte in Pensionen oder das Sozialsystem." ÖGB und SPÖ denken erneut an eine Erbschaftssteuer. Wie auch immer finanziert, wie viel mehr würde je nach Lohn- oder Einkommensklasse mehr bleiben? Ohne Modell – und das werde erst erarbeitet – sei das nicht zu sagen, so das Finanzressort.

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