Denksport Skispringen: Kopf oder Qual

Schlierenzauer: "Die Nuss ist hart zu knacken. Man beißt sich fast die Zähne aus".
Warum landen so viele Höhenflieger auf dem Boden der Realität? Weil die wahren Abenteuer der Skispringer im Kopf sind.

Wenn er denn wenigstens schleißig trainiert hätte und in der Vorbereitung nur auf der faulen Haut gelegen wäre. Wenn er seine Flaute zumindest dem ach so gemeinen Wind in die Schuhe schieben könnte. Wenn es denn nur irgendeinen Schuldigen gäbe. Dann wäre alles noch etwas leichter zu ertragen, und Gregor Schlierenzauer wüsste, bei wem er sich jetzt beschweren müsste. "Aber ich persönlich kann mir gar nichts vorwerfen", sagt der 25-jährige Tiroler, der auf dem Papier der erfolgreichste Skispringer der Weltcupgeschichte (53 Siege) ist, sich auf der Schanze aber derzeit mitunter wie ein Anfänger vorkommen muss.

Willkommen in der Welt der Adler. Willkommen im Reich der unbegrenzten Möglichkeiten: In keinem anderen Sport kann das Pendel so extrem ausschlagen wie im Skispringen. Zwischen Wolke sieben und dem Boden der Realität liegen oft nur wenige Wochen, manchmal sogar nur ein einziger Sprung.

Furchtbar mühsam

Am Beispiel von Superstar Gregor Schlierenzauer, der derzeit nur mehr ein Schatten seiner selbst ist.

Am Beispiel von Senkrechtstarter Thomas Diethart, der zwei Jahre nach seinem Tourneesieg in der Versenkung verschwunden ist.

Oder auch am Beispiel von Routinier Andreas Kofler, einem Tournee- und Olympiasieger und Weltmeister seines Faches, der nicht mehr wiederzuerkennen ist.

"Skispringen kann furchtbar sein", weiß auch Anton Innauer. "Furchtbar mühsam." Dass die Schlierenzauers und Dietharts alle herausragende Athleten sind, mit körperlichen Topwerten und ausgezeichneten Flugeigenschaften, das ist unbestritten. Unbestritten ist allerdings auch, dass sie ihre Fähigkeiten nun schon seit geraumer Zeit nicht mehr unter Beweis stellen. Nicht mehr unter Beweis stellen können. "Weil im Skispringen der Kopf eine wichtigere Rolle spielt als Kraft, Technik oder das Material", sagt Anton Innauer.

Hochgradig feinfühlig

Das liegt schon in der Natur der Skisprung-Sache, und daher zwangsläufig auch im Naturell der Athleten. "Skispringer sind hochgradig feinfühlig", erklärt Christian Uhl. Und damit extrem anfällig für äußere Einflüsse und Strömungen.

Der Vorarlberger Sportpsychologe hat bereits mit Stabhochsprung-Legende Sergej Bubka zusammengearbeitet, aber Skispringer sind von einem besonderen Schlag. "Die haben eine ganz spezielle Körperwahrnehmung", berichtet Uhl, der sich derzeit auch um das Seelenwohl von Gregor Schlierenzauer kümmert. "Ich kenne keine Sportart, die den Athleten mental so herausfordert wie das Skispringen."

Vertrauen, Sicherheit, Leichtigkeit – das sind die Eigenschaften, die einen Skispringer zum Höhenflieger machen. Klingt eigentlich simpel, ist aber in Wahrheit eine große Kunst. Dieses Abenteuer im Kopf bestehen nur die wenigsten. "Skispringen ist ein Wechselspiel zwischen Denksport, Gefühlssport und Techniksport", sagt Psychologe Uhl. "Im Idealfall sollte man auf der Schanze alles ausblenden und es einfach fließen lassen. Diese Springer drücken den Autopiloten, rufen ihre Fähigkeiten ab und machen das, was sie können."

Idealer Zustand

"Flow" nennen die Skispringer diesen Idealzustand, der sich dummerweise nicht konservieren lässt und der manchmal so rasch wieder verschwindet, wie er aufgetaucht war. "Die Springer sind nämlich so gestrickt, dass ein Sprung alles in eine andere Richtung lenken kann. Im positiven, aber auch im negativen Sinn", weiß Christian Uhl. "Ein einzige Sprung kann zum Aha-Erlebnis werden – oder aber die ganze Form zerstören."

Gregor Schlierenzauer zum Beispiel plagen gerade gleich mehrere Probleme. Ihm sind nicht nur die Leichtigkeit und das Selbstvertrauen abhanden gekommen, der Tiroler muss sich auch erst noch mit dem veränderten Material anfreunden. "Man baut sich ein Erfolgsmuster auf, mit dem man gut gefahren ist, und will das dann bewahren. Sich auf das Neue einlassen, das ist die große Herausforderung", weiß Christian Uhl.

Gregor Schlierenzauer beschreitet gerade diesen mühsamen Weg, der ihn viel Nerven und Kraft kostet. "Die Nuss ist hart zu knacken. Man beißt sich fast die Zähne aus." Und trotzdem ist es auch bei Schlierenzauer noch gar nicht einmal so lange her, dass er den Flow-Effekt verspürt hat. Dass er oben auf dem Balken saß, mit der Sicherheit und der Gewissheit, allen um die Ohren zu fliegen. "Bei meinem Sieg im Sommer-Grand-Prix in Hinzenbach habe ich das wieder einmal gespürt. Genau da will ich wieder hin."

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