"Meine Aufgabe ist auch, Dinge kritisch zu sehen"

Ruttensteiner zieht beim ÖFB die Fäden, auf die Rolle des Wichtigtuers verzichtet er.
Der ÖFB-Sportdirektor vermeidet es, in erster Reihe zu stehen, wenn Österreichs Nationalteam Erfolge feiert.

Österreich freut sich. Weil die wichtigste Nebensache der Welt wieder zu einer Hauptsache geworden ist. Der gewachsene Stellenwert im internationalen Fußball fördert das Selbstwertgefühl. Dieses hat Teamchef Marcel Koller, der Schweizer, mit einer unerwartet ungefährdeten EM-Qualifikation des in eine Attraktion verwandelten Nationalteams offensichtlich gemacht. Meint die breite Öffentlichkeit.

Mitbegründet hat es ein anderer: Willibald Ruttensteiner (53). Der Sportdirektor des Österreichischen Fußball-Bundes (ÖFB) erklärt, warum der Schritt aus dem Schattendasein ins internationale Rampenlicht gelungen ist und was er tatsächlich dazu beigetragen hat.

KURIER: Herr Ruttensteiner, Österreichs Team kletterte unter die Top 10 der Weltrangliste und löste einen kollektiven Freudentaumel aus. Wie erklären Sie diesen Aufschwung?
Willibald Ruttensteiner:
Die große Vision war, den österreichischen Fußball unter die Top 30 der Welt zu bringen. Begonnen haben wir im Jahr 2000 damit, alle Bereiche wie Trainerausbildung, Talenteförderung, die Nationalmannschaften aller Altersbereiche, bis hin zum Breiten- und Frauenfußball zu analysieren. Und dann haben wir ein Konzept erarbeitet, den "österreichischen Weg".

Die Öffentlichkeit hat aber vor allem Teamchef Marcel Koller als großen Architekten des Erfolgs ausgemacht.
Die Aufbauarbeit hat lange gedauert, aber wir haben Voraussetzungen geschaffen, die es Marcel Koller ermöglicht haben, auf sehr hohem Niveau zu arbeiten. Das, was er daraus gemacht hat, ist sein Verdienst. Da brauchen wir nicht drumherum zu reden.

Streng hierarchisch sind Sie allerdings Kollers Vorgesetzter.
Ja, hierarchisch im Sinne des Unternehmens. Ich hab’ diese Frage jedoch nie diskutiert. Ich sehe es als unheimliche Wertschätzung Kollers, wenn er sagt: "Ich hätte gerne, dass du immer bei den Lehrgängen des Teams dabei bist." Das hat noch kein Teamchef davor zu mir gesagt.

"Meine Aufgabe ist auch, Dinge kritisch zu sehen"
ABD0006_20150909 - SCHWECHAT - ÖSTERREICH: Teamchef Marcel Koller und ÖFB-Sportdirektor Willi Ruttensteiner (L.) während des Fluges am Montag, 7. September 2015, nach Stockholm. Die österreichische Fußball-Nationalmannschaft wird am 8. September 2015 ein EM-Qualifikationsspiel gegen Schweden in Stockholm bestreiten. - FOTO: APA/ROBERT JAEGER

Und wer sagt, wo es langgeht, wer gibt die sportliche Linie oder das System vor, wer ist im ÖFB die letzte Instanz? Koller oder Sie?
Die Linie im Verband ist Sache des Sportdirektors. Die wäre aber falsch, wenn der Teamchef etwas anderes sagen würde. Enge Kooperation ist wichtig, um die Eckpunkte herauszuarbeiten. Das System betrifft nicht nur die Anordnung der Spieler. Also, 4-3-3, dann 4-2-3-1 oder 4-4-2 zu spielen, steht nicht an erster Stelle. Wichtig sind die Prinzipien.

Die da wären?
Zum Beispiel, ein Spiel zu gestalten. Wir wollen nicht auf Konter, nicht jeden Ball so schnell wie möglich vertikal spielen. Wir wollen in Ballbesitz sein, unser Spiel dem Gegner aufdrängen. Was nicht heißt, dass wir beim Umschalten, beim Konterspiel, Pressing oder bei Standardsituationen nicht genauso unsere Prinzipien haben. Das ist viel wichtiger als das System. Die Anordnung ist nur eine Grundaufstellung.

Eine Philosophie, die sich wie ein roter Faden durch die Nachwuchsnationalteams bis ins A-Team zieht?
Wir hatten immer eine Philosophie, bis zum U-21-Team. Aber nicht durchgehend. Die Durchgängigkeit ist da, seit Koller hier ist. Wunderbar, wenn der Teamchef zu jeder Trainersitzung kommt und sich einbringt. Ich bin bei einem Länderspiel bei der Analyse des Gegners nicht involviert. Das ist Sache des Trainers.

Matthias Sammer, Sportvorstand beim FC Bayern und zuvor Sportdirektor beim DFB, hat vor allem Ihnen Rosen gestreut. Warum?
Das müssen Sie ihn fragen.

Stehen Sie mit Ihm noch in Kontakt?
Jetzt wenig. Intensiv war es, als er noch DFB-Sportdirektor war, da habe ich ihn mindestens zwei Mal im Jahr getroffen. Ich habe viel von ihm gelernt und er auch von unserem Weg. Ein intensiver Austausch.

"Meine Aufgabe ist auch, Dinge kritisch zu sehen"
Sport, Mediencocktail RLB Linz, 20.07.2007, Im Bild: v.l.Willi Ruttensteiner und Matthias Sammer Foto: Foto Lui

Gibt es Momente, in denen Sie gerne Trainer oder gar Teamchef wären?
Ich bin schnell draufgekommen, dass mich Hintergründe mehr interessieren. Als ich 2000 zum ÖFB gekommen bin, habe ich beides in der Hand gehabt. Ich war Trainer der U 21, und ÖFB-Präsident Beppo Mauhart hat zu mir gesagt: "Herr Ruttensteiner, studieren Sie den europäischen Fußball und machen Sie ein Konzept." Unglaublich. Aber ich habe mit der Zeit gemerkt, dass beides nicht geht, dass ich im strategischen Bereich viel mehr bewegen kann. 2006 wurde mir der Posten des Technischen Direktors angeboten. Ab diesem Zeitpunkt wollte ich, dass Österreich dorthin kommt, wo wir jetzt stehen.

Das hat allerdings doch eine Weile gedauert. Haben Sie daran nie gezweifelt?
Das war für mich die größte Belastung in den letzten Jahren. 2012 hab’ ich eine Master-Arbeit geschrieben: "Führt der österreichische Weg zum Erfolg?" Mein Schluss: "Ja". Ein Jahr später haben wir die WM-Qualifikation nicht geschafft. Ein Tiefschlag. Und ich hab’ mir gedacht, das gibt’s doch nicht. Es geht nicht auf.

Haben Sie schon das Ende Ihrer Ära befürchtet?
Habe ich. Denn im Fußball über zehn Jahre ein Konzept verfolgen zu dürfen, ist nicht normal. Aber die Befürchtung war da, weil sich der Erfolg nicht eingestellt hat. Jetzt sieht jeder, dass die Schritte richtig waren für unser Land.

Gibt es Dinge, die Sie aus heutiger Sicht anders machen würden?
Nicht viel. Aber ich war zu egoistisch im Sinne von, dass es schnell gehen muss. Was ich gefordert habe, konnten viele nicht nachvollziehen.

Zum Beispiel?
Im letzten Jahrzehnt haben wir in einer hervorragenden Zusammenarbeit mit der Bundesliga und den Landesverbänden unsere Akademien aufgebaut. In Frankreich wurde das schon in den 1980er-Jahren erledigt. Ich habe gefordert: Das brauchen wir auch und zwar innerhalb eines halben oder eines Jahres. Schneller, schneller. Das war zum Teil kontraproduktiv.

"Meine Aufgabe ist auch, Dinge kritisch zu sehen"
APA5503314 - 09102011 - ASTANA - KASACHSTAN: Interims-Teamchef Willi Ruttensteiner und Marc Janko während des ÖFB-Trainings am Sonntag, 9. Oktober 2011, in der Astana Arena in Astana. Österreich wird am kommenden Dienstag ein EM-Qualifikationsspiel gegen Kasachstan bestreiten. APA-FOTO: ROBERT JAEGER

Wo lag vor 15 Jahren in Österreich der wunde Punkt?
Gefehlt hat vor allem die Ausbildung der 10- bis 14-Jährigen. Wir haben Spieler früher mit 14 geholt. Doch die Grundausbildung beginnt davor. Ich wollte wegen unseres Schulsystems mit den Zehnjährigen beginnen und damit auch den Wegfall des Straßenfußballs kompensieren. Wir haben die Landes-Ausbildungszentren (LAZ, Anm.) auf dieser Basis konzipiert. Für mich ist das der Schlüssel für die Qualität der heutigen Akademie-Abgänger. Diesbezüglich haben die neun Landesverbände mit ihren 29 Ausbildungszentren bei den 10- bis 14-Jährigen Großartiges auf die Beine gestellt.

Wie beurteilen Sie Österreichs Trainerausbildung?
Wir hatten immer eine gute. Aber wir haben geschaut, was Engländer, Franzosen, Deutsche oder Spanier machen. Das spanische Modell hat uns begeistert.

Wieso?
In Spanien wirst du Kindertrainer, machst den Kurs, danach musst du 50 Trainingseinheiten dokumentieren. Erst dann kommst du zur Prüfung. Bei uns geschah dies unmittelbar nach der Kurswoche. Die Spanier machten das intensiver und hatten mehr Praxisbezug bei der Prüfung.

Was tun Sie, um internationale Trends im Fußball nicht zu verschlafen?
Große Trends sind nicht mehr festzustellen. Zu viel ist schon passiert. Aber es wäre fatal, eine EM, WM oder die Champions League nicht immer zu analysieren. Veränderungen finden im Detail statt. Herum zu fahren und vor Ort zu sein, ist entscheidend, auch wenn es daheim auf der Couch angenehmer ist.

Wie sieht Ihre Praxis aus?
Ein Beispiel: Ich habe mit Sir Alex Ferguson, Trainer-Ikone von Manchester United, die Europa League analysiert. Wir sollten von zwanzig Toren die zehn schönsten auswählen. Ferguson hat dabei fünf genommen, die ich nicht verstanden habe. Volleyschüsse ins Kreuzeck kannst du vergessen, hat er gemeint. Denn die schönsten Tore sind die, bei denen der Druck auf den Schützen am größten ist. Genau darum geht es: Wir suchen Spieler, die unter Druck entscheidende Dinge vollbringen. Diese Analysen ständig durchzuführen, bringt dich weiter.

Wie beurteilen Sie den Stellenwert der österreichischen Trainer im Ausland?
Durch die Erfolge des Nationalteams ist der Stellenwert unseres Fußballs generell gewachsen. Genauso steigt das Image mit den Erfolgen von Zoki Barisic und Rapid in der Europa League. Zugpferd und Botschafter unserer Trainerausbildung ist Peter Stöger. Ausgebildet in Österreich, in der Regionalliga begonnen – jetzt beweist er es in Deutschland.

Berufsoptimisten sehen Österreich schon im EM-Halbfinale. Was wäre für Sie ein Erfolg?
Für mich ist das Ziel, den Weg bis nach Frankreich zu gestalten. Bei der EURO geht es um die qualitative Arbeit des Trainers. Die wird er durchziehen. Gewinnen wollen wir natürlich alle Spiele. Alle anderen Zielsetzungen sind Visionen und eigentlich kontraproduktiv. Mit dem Druck, der von der Euphorie erzeugt wird, muss man in diesem Geschäft leben.

Über allem schwebt die Vertragsverlängerung mit Teamchef Koller. Wie ist Ihr Standpunkt dazu?
Wichtig ist, dass wir vor der EM wissen, wer danach Teamchef ist. Ich weiß jedenfalls: Koller sieht das Potenzial, er ist irrsinnig gerne in Österreich und unsere Art hat er schätzen und lieben gelernt. Ich merke auch, dass ihn die Spieler faszinieren. Außerdem gibt es noch die Herausforderung 2018 in Russland. Eine Weltmeisterschaft ist nur wenigen Trainern vorbehalten.

Was ist, wenn Koller geht. Gibt es einen Plan B?
Ich beobachte ständig die Situation in Europa. Ich wäre ein schlechter Sportdirektor, wenn ich nicht vernetzt wäre und in gewissen Ländern Leute kennen würde, die Trainer einschätzen können. Aber grundsätzlich beschäftige ich mich nicht mit einem Plan B. Ich bin optimistisch und vertraue darauf, dass Koller sagt: "Ich möchte hier weiterarbeiten."

"Meine Aufgabe ist auch, Dinge kritisch zu sehen"
Willi Ruttensteiner, Sportdirektor des Österreichischen Fußball-Bundes (ÖFB), im Interview in Wien am 13.11.2015

Sie haben das Image des Fußball-Professors. Professoren werden manchmal auch ein wenig belächelt. Ihre Selbsteinschätzung?
Im Betreuerstab nehme ich tatsächlich einen gewissen Gegenpol ein. Meine Aufgabe ist auch, Dinge kritisch zu sehen und zu hinterfragen. Dennoch habe ich wahrgenommen, dass bei meinem Geburtstag jeder Spieler zu mir gekommen ist, mich umarmt und mir gratuliert hat. Andererseits will ich auch nicht überall dabei sein, weil es aufgrund meiner Führungsposition schwierig ist. Es gibt Grenzen.

Also sind Sie ein Lehrmeister im engsten Sinne, oder ein lockerer Typ?
Die erfolgreiche Qualifikation hat mir viel Anspannung genommen. Stimmungslagen sind verschieden. In den letzten zwei Jahren kann ich mich an zwei Augenblicke erinnern: Zum einen, als Ibrahimovic 2013 das Siegestor für Schweden geschossen hat. Ich hab’ die Welt nicht mehr verstanden.

Und die zweite?
Die zweite Halbzeit wieder gegen die Schweden in dieser EM-Qualifikation. So oft hab’ ich mir gewünscht, dass Österreich einmal so überlegen spielt. Und zwar wirklich spielt. Da war es soweit. Ich hab’ die Anzeigentafel beim Stand von 4:0 fotografiert. Dieses Bild hebe ich mir ewig auf.

Privat

Willibald Ruttensteiner wurde am 12. November 1962 in Steyr in Oberösterreich geboren, aufgewachsen ist er in Wolfern. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter.

Karriere

Volksschullehrer Ruttensteiner spielte als Amateur bei Wolfern, Amateure Steyr, Vöcklamarkt und Union Wels. In Sattledt begann er 1993 als Trainer und wurde Meister. Über weitere Trainerstationen beim FC Linz kam er 1999 zum ÖFB, wo er U-21- Teamchef und Sportkoordinator wurde. 2001 wurde er Technischer Direktor, seit 2006 ist er Sportdirektor.

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