Jeder fünfte Österreicher hat Migrationshintergrund

Integrations-Fußball-Turnier. Am Langen Felde 60, 1220 Wien am 060072013.
Rezepte fürs Heimischwerden: Was Staatssekretär Kurz nach der Wahl umsetzen will.

Das Thema eignet sich wunderbar für Populismus, es polarisiert, zudem ist Wahlkampf. Und so sah sich Heinz Fassmann zu einem Appell genötigt: „Ich bitte alle um Realismus und um Geduld.“

Das Thema heißt Integration, und Fassmann hat dazu viel zu sagen. Er ist Vize-Rektor der Uni Wien und präsentierte am Dienstag als Vorsitzender eines Experten-Beirates mit Integrationsstaatssekretär Sebastian Kurz den Integrationsbericht 2013.

Das Konvolut ist eine Bilanz, was bei der Integration seit 2011 passiert ist; und es ist eine Sammlung von Ideen, was noch zu tun bleibt.

Die Positiva wirken auf den ersten Blick unspektakulär. So lobte Fassmann, dass es seit 2011 ein eigenes Integrationsressort in der Regierung gibt. Damit sei die Angelegenheit von Reiz-Themen wie „Asyl“ und „Sicherheit“ getrennt. „Man darf das nicht gering schätzen“, sagt Fassmann – immerhin sei zuvor in der Integrationspolitik de facto jahrzehntelang wenig bis gar nichts passiert. Und das, obwohl mittlerweile jeder fünfte hier Lebende Migrationshintergrund aufweist (siehe Grafik unten).

Verbessert hat sich laut Fassmann die Stimmung im Land: Waren 2010 noch 18 Prozent der Meinung, die Integration funktioniere nicht, sind es heute nur noch 9.

Um die Integration weiter zu verbessern, gaben die Experten der künftigen Regierung für die nächste Gesetzgebungsperiode eine Reihe von Empfehlungen mit auf den Weg. Die wichtigsten sind folgende:

Bildungs- statt Schulpflicht

Fassmann und Kurz wiederholten den im KURIER bereits am Sonntag thematisierten Wunsch nach einem Umdenken in der Bildungspolitik.

Die Schul- müsse durch eine „Bildungspflicht“ ersetzt werden; Lernschwache sollen notfalls bis zum 18. Lebensjahr in die Schule gehen. „Das sollte kein plumpes Sitzenbleiben sein“, sagt Fassmann, „sondern ein modulares System am Schulstandort.“ Schüler mit nichtdeutscher Muttersprache brechen vier mal häufiger die Schule ab als gebürtige Österreicher.

Reform der Rot-Weiß-Rot-Card

Derzeit gilt für Zuwanderer eine Einkommens-Untergrenze von 1900 Euro (brutto). Fassmann und Kurz ist das zu hoch. „Wir wissen, dass viele Akademiker-Einstiegsgehälter bei 1800 Euro beginnen“, sagt der Experte.

Einig sind sich die beiden bei der Frage, wie mit Ausländern umgegangen werden soll, die in Österreich eine Hochschule besuchen. Derzeit dürfen nur Absolventen eines Master-Lehrganges in Österreich bleiben bzw. arbeiten. Kurz und Fassmann sind dafür, auch Bachelor-Absolventen die Rot-Weiß-Rot-Karte zu geben. „Es ist skurril, wenn wir Menschen um teures Steuergeld hier ausbilden und dann ziehen lassen“, sagt Kurz. Zudem sollten ausländische Studienabsolventen länger Zeit für die Jobsuche haben. Fassmann: „Wir könnten uns an Deutschland orientieren, wo die Frist nicht sechs, sondern 12 Monate beträgt.“

Reform der Kinderbetreuung

Jeder fünfte Österreicher hat Migrationshintergrund
Kurz ventilierte am Dienstag erneut das Ziel, das verpflichtende Kindergartenjahr in ganz Österreich um ein zweites Jahr zu verlängern: Kinder, die nicht gut Deutsch können, sollten bis zu zwei Jahren verpflichtend in den Kindergarten gehen müssen. Außerdem forderte Kurz deutlich mehr Kinderbetreuungseinrichtungen für unter Dreijährige.

SPÖ-Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek begrüßte die Forderung: „Schön, dass auch in der ÖVP langsam, aber sicher die Einsicht reift, dass wir mehr Kinderbetreuungsplätze brauchen“, so Heinisch-Hosek zum KURIER. „Die SPÖ setzt sich schon lange für einen Ausbau ein.“

Skeptisch ist der Regierungspartner bei der Reform der Rot-Weiß-Rot-Card. „Das Einstiegsgehalt von 1900 Euro brutto erscheint uns für Akademiker nicht zu hoch. Wir haben schon jetzt überdurchschnittlich viele Jobsuchende mit Bachelor-Abschluss“, heißt es im Ressort von Sozialminister Rudolf Hundstorfer. Insofern sei auch die vorgeschlagene Verlängerung der Frist für die Jobsuche wenig sinnvoll.

Jeder fünfte Österreicher hat Migrationshintergrund

FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache sieht den heute präsentierten Integrationsbericht als "Dokument des Scheiterns". Auch für Team Stronach-Klubchef Robert Lugar belegt der Report, dass in diesem Bereich noch viel zu tun sei und Integration nicht ausreichend funktioniere. BZÖ-Obmann Josef Bucher verlangte einen "Masterplan Integration", die Grüne Integrationssprecherin Alev Korun wiederum forderte Maßnahmen zur Verbesserung der Chancengleichheit ein.

Die Industrie pickte wiederum die angeregte Bildungspflicht heraus. Diese Idee, statt auf die Dauer des Schulbesuchs auf ein Mindestmaß an erworbenen Kompetenzen abzustellen, wurde von der Industriellenvereinigung an sich begrüßt. Allerdings müsse das Bildungswesen alles dazu tun, damit junge Menschen die Bildungsziele so rasch als möglich erreichen. Begrüßt wurden seitens der IV auch die Vorschläge, den Zugang zur Rot-Weiß-Rot-Card zu erleichtern.

Reform

Diese Ansatz wird auch vom Wiener Caritas-Direktor Michael Landau unterstützt. Ferner plädierte er - wie die Experten - für eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts. Denn die geltende Regelung sei eine der restriktivsten in ganz Europa - mit zu hohen Einkommens-und Spracherfordernissen. Erfolgreiche Integration von Zuwanderern werde dadurch unnötig erschwert.

Korun kritisierte, dass im Bericht nur wenig beachtet werde, dass derzeit sehr strenge Gesetze es legal hier Lebenden schwer machten, Aufenthaltssicherheit zu erreichen, was aber die Voraussetzung für eine Verwurzelung und letztendlich für die Integration hier sei. Unterstützt wird von den Grünen das im Report angeregte zweite verpflichtende Kindergartenjahr.

Mangelnde Umsetzung

Bucher warb in seinem OTS-Beitrag zum Integrationsbericht für den "BZÖ-Ausländer-Check" mit einer an fixe Kriterien gebundenen Zuwanderung. Dabei müsse aus den Bereichen Bedarf, Sprache, Bildung, Gesundheit, Arbeitsfähigkeit, Erwerbstätigkeitsdauer, Arbeitsplatz und Einkommen jeweils eine Mindestpunktezahl erreicht werden. Dieser Ausländer-Check müsse nach dem Prinzip des "Bonus-Malus-Systems" auch für die bereits in Österreich lebenden Ausländer gelten, bis sie österreichische Staatsbürger mit allen Rechten und Pflichten seien.

Es sei höchste Zeit, sich von den linken Integrationsträumereien zu lösen und endlich auch Forderungen an Migranten zu stellen, erklärte FP-Chef Strache. Dies gelte besonders auch für den "völlig unwirksamen Integrationsstaatssekretär", der bislang nichts geleistet habe und sich im Moderieren und Schönreden der unerfreulichen Ist-Situation gefalle. Strache will hingegen "strenge Maßnahmen": "Wer seine Kinder nicht in die Schule schickt oder Mädchen die Teilnahme am Unterricht verbietet, dem muss etwa die Kinderbeihilfe gestrichen werden."

Lugar meinte in einer Aussendung, Integrationsstaatssekretär Sebastian Kurz (ÖVP) sei gefordert, seine teilweise brauchbaren Vorschläge für mehr Integration nicht nur ständig medial anzukündigen, sondern auch einmal umzusetzen.

Frühere Förderung

Wenig Freude hat der Bildungswissenschafter Stefan Hopmann (Uni Wien) mit einer Bildungspflicht. Diese sei eine "Verlängerung des Elends" und zudem teuer, so Hopmann im Ö1-"Mittagsjournal". Die betroffenen Jugendlichen noch "Extrarunden drehen zu lassen" entlaste höchstens das AMS und ähnliche Einrichtungen.

Wesentlich sinnvoller und kostengünstiger wäre es, die Kinder schon im Kindergarten und der Volksschule besser zu beobachten und deren Sprachentwicklung und Mathematik-Verständnis zu fördern. Das sei "per saldo sehr viel effektiver, erfolgswahrscheinlicher, kostengünstiger und besser als zu warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen und ersoffen ist und ich's dann für teures Geld wieder rausfischen möchte", so Hopmann.

Zahlen der Statistik Austria zeigen wiederum: Wer derzeit den Abschluss der Sekundarstufe I (Hauptschule, AHS-Unterstufe, Neue Mittelschule) nicht auf Anhieb bzw. kurz nach Ende der Schulpflicht schafft, hat nachher schlechte Chancen dafür.

Ab heute ist offiziell, was schon seit Sonntag innenpolitisch erregt. Staatssekretär Sebastian Kurz präsentierte den neuen Integrationsbericht. Der KURIER hat am Wochenende veröffentlicht, was die Fachleute begehren: Schule für lernschwache Jugendliche bis 18, damit um drei Jahre länger als jetzt.

Den Regierenden behagt der Vorschlag. „Wir sind sehr interessiert, dass das nach der Wahl in einer großen Koalition umgesetzt wird“, heißt es im SPÖ-Unterrichtsministerium von Claudia Schmied. ÖVP-Vizekanzler Michael Spindelegger möchte diese „Bildungspflicht“ ebenfalls im nächsten Koalitionspakt festschreiben. Der KURIER liefert die Fakten zur Causa.

Was wollen die Integrationsexperten?

Derzeit brechen jährlich 8000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss ab, Migranten vier Mal öfter als Nicht-Migranten. Die Perspektive ist trist: Viele sind arbeitslos, leiden unter einem „subjektiven Gefühl der Desintegration“. Und so soll die „Schulpflicht“ durch eine gesetzliche „Bildungspflicht“ ersetzt werden. Das bedeutet: Schüler, die nicht ausreichend Lesen, Schreiben und Rechnen können, werden so lange weiter unterrichtet, bis sie bestimmte Fähigkeiten haben – bis zum 18. Lebensjahr.

Wie könnte das in der Praxis aussehen?

Es gehe nicht darum, das letzte Pflichtschuljahr so lange zu wiederholen, bis es geschafft ist, verlautet aus dem Bildungsressort: „Wir wollen flexible Modulsysteme, damit die Jugendlichen die nötige Qualifikation erwerben.“

Schon im Herbst starten zehn Schulversuche an Polytechnischen Lehrgängen: Bei einem oder mehreren Nicht genügend kann entweder das betreffende Fach oder der ganze Jahres-Stoff wiederholt werden. Das Ganze ist freiwillig. Im Bildungsministerium heißt es: „Derzeit können wir niemanden dazu zwingen. Es fehlt die Rechtsgrundlage. Das wollen wir im Herbst ändern. Das soll Teil des Regierungsprogramms sein.“ Alternative wäre, Bildungsdefizite an Volkshochschulen auszugleichen – schon seit Jänner ist der Pflichtschulabschluss dort kostenlos zu erwerben.

Wie beurteilen die Sozialpartner, die bereits zwei Bildungskonzepte erstellt haben, und Schulexperten den Vorstoß?

Für Wirtschaftskammer-Boss Christoph Leitl ist „nicht entscheidend, wie viele Jahre jemand im Schulsystem verbringt, sondern welches Bildungsniveau erreicht wird. Die Verbindlichkeit von Bildungszielen ist außer Streit zu stellen.“ Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen seien aber „frühest möglich“ zu erlernen.

Das meint man auch im Gewerkschaftsbund. „Nur zu sagen, lernschwache Jugendliche müssen drei Jahre länger in der Schule sein, ist zu wenig. Es ist viel früher anzusetzen, etwa mit einem zweiten Kindergartenjahr“, sagt ÖGB-Bildungsexperte Alexander Prischl. Lediglich die Schulpflicht zu erfüllen, „kann es nicht sein. Es sollten Bildungsstandards erreicht werden. Ob nach acht, neun oder zehn Jahren – variabel muss das sein. Zudem ist das nicht nur ein Migranten-Problem. Das betrifft auch Kinder aus Häusern mit problematischem sozialem Hintergrund.“ Für den Bildungsfachmann Andreas Salcher ist „beim Poly anzusetzen, wenn wir über Verlängerung reden“. Das dürfe aber nicht mehr Poly heißen. Es müsse dort auch anders ablaufen als derzeit: „Der Fokus muss darauf gelegt werden, die soziale Kompetenz und das Selbstwertgefühl dieser Jugendlichen zu heben. Die sind ja nicht dort, weil sie zu blöd sind, sondern weil ihnen die Motivation fehlt.“

Was hieße längere Schulpflicht für den Jobmarkt?

Es würde die Arbeitslosen-Statistik verbessern, weil sich diese Jugendlichen nicht „arbeitssuchend“ melden. 53.000 zwischen 18 und 24 sind 2012 nach der Pflichtschule ausgestiegen.

Könnte Schule bis 18 bei der Integration helfen?

Als „einen Mosaikstein in der Integration“ bezeichnet Integrationsexperte Kenan Güngör die Bildungspflicht. Es sei aber auch in die Schülerbetreuung zu investieren; und die Eltern seien stärker einzubinden. Die Bildungspflicht ist für ihn „Reparaturarbeit“: „Man muss schon vorher investieren, damit möglichst wenige Kinder mit 18 davon betroffen sind.“

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