Traum von britischen Billigjobs lockt Tausende

Warten auf die Chance zum Sprung nach Großbritannien: Flüchtlinge in Calais.
Immer mehr Flüchtlinge versuchen durch den Eurotunnel nach England zu gelangen. Auf Zugdächern oder zu Fuß.

Nachts sind wir zu allem bereit, tagsüber versuchen wir normal zu leben“, sagt der Flüchtling aus Eritrea, der nach drei Jahren Odyssee durch Afrika, Asien und Europa jetzt seit fünf Monaten in einer Lagerstätte neben der nordfranzösischen Stadt Calais haust. In den zwei Nächten zuvor waren jeweils an die 2000 Flüchtlinge in die Sperrzone rund um den Abfahrts-Terminal für die Zugsverbindung unter dem Ärmelkanal nach Großbritannien eingedrungen.

Britisches Job-Paradies

Dieser Massen-Aufbruchsversuch war eine Premiere. Er überraschte die privaten Wachmannschaften der „Eurotunnel“-Betreiber und die französischen Polizei-Einheiten, die den annähernd 3000 Flüchtlingen, die rund um Calais lagern, den Übertritt ins britische Paradies verwehren sollen. Die Mehrheit der Eindringlinge wurde abgefangen, dutzende wurden verletzt. Ein Sudanese verunglückte tödlich beim Versuch auf einen Bahnshuttle zu klettern, der Lkw geladen hatte. Es war dies der elfte Todesfall seit Jahresbeginn.
Aber weder diese Opferzahl noch die immer rigoroseren Abzäunungen und Überwachungsmethoden, über deren Bezahlung die Firma „Euro-Tunnel“ und die Regierungen in London und Paris gerade wieder im Clinch liegen, werden die Menschen entmutigen, die sich fast am Ziel ihrer Träume wähnen. Es ist zwar nicht so, dass die Aufnahmebedingungen und Sozialhilfen für Asylsuchende in Großbritannien so viel verlockender wären als in Frankreich. Aber jenseits des Ärmelkanals lockt ein florierender, extrem flexibler Arbeitsmarkt, in dem Migranten schnell, und sei es auf stunden- oder wochenweiser Basis, Anstellung finden. Und das ist für tatkräftige und mutige junge Männer und Frauen allemal besser, als in Frankreich mit der unsicheren Aussicht auf ein paar Sozialstützen dahin zu vegetieren.

Schon früher geräumt

Außerdem stammen die meisten Flüchtlinge in Calais aus nicht-frankophonen Ländern wie Eritrea, Äthiopien, Sudan, Afghanistan, Irak. Landsleute haben in Großbritannien beachtliche Wirtschaftsnetze entfaltet, die die Integration erleichtern.
Die französischen Behörden haben, in der Hoffnung das Problem schlicht auszusitzen, die übliche Mischung aus zeitweiliger polizeilicher Schärfe, bürokratischem Hürdenlauf und Toleranz an den Tag gelegt. So wurde ursprünglich in der Gegend ein riesiges Flüchtlingszentrum unter Verwaltung des Roten Kreuzes zugelassen, wo doch schon klar war, dass der Übertritt nach Großbritannien auf Grund eines zwischenstaatlichen Abkommens verhindert werden sollte. Als die Zustände in dem völlig überbelegten Zentrum unhaltbar und die Anrainer immer ärgerlicher wurden, ließ der bürgerliche Staatschef Nicolas Sarkozy 2002 die Einrichtung schließen. Ein Teil der Flüchtlinge tauchte in Paris unter. Bei Calais entstanden schon bald in Wäldchen und auf Industriebrachen zahllose Lagerstätten: der so genannte „Jungle“. Hilfsvereine und Ortsbewohner leisteten Beistand. Aber die hygienischen Probleme blieben ungelöst, der Druck aus Großbritannien und von „Eurotunnel“ wurde wieder stärker: die Polizei räumte den „Jungle“.

Der neue "Dschungel"

Jetzt gibt es bereits den „New Jungle“, wie die Flüchtlinge ihr neues Lager auf dem Gelände einer ehemaligen Schuttablade der Gemeinde Calais nennen. Eine Kleinstadt aus Zelten, Plastikplanen und einigen Holzhütten. Das meiste stammt aus Materialspenden des katholischen Hilfswerks.
Einige der Hütten dienen als Mini-Restaurants, es gibt einen afghanischen Greißler mit einem wohl sortierten Angebot an Lebensmitteln und Handy-Karten, zwei Moscheen und eine Kirche. Sudanesen haben sogar eine Schule installiert. Die Flüchtlinge haben sich in einem Delegiertenrat selber organisiert, der das Lager in verschiedene Bezirke unterteilt hat. In einem ehemaligen Jugendzentrum nebenan wurde auf Beschluss der Behörden eine Tagesstätte mit dutzenden Sozialbetreuern eingerichtet. Dort bilden sich auch endlose Warteschlangen bei der Essensausgabe. Polizei ist zur Stelle, um etwaige Schlägereien zu vermeiden.
Einige Flüchtlinge spielen Fußball, die meisten ruhen sich tagsüber aus. Um nachts wieder und wieder zu versuchen auf einen Lkw an einer Kreuzung zu springen, auf das Dach eines Bahnshuttle zu gelangen oder in den Kanaltunnel zu Fuß einzudringen. Die Erfolgschancen hängen auch vom Ort der Aktion ab – darüber befinden die Schlepper. Das Pariser Blatt Le Monde recherchierte, dass es je nach Bezahlung einige Tage bis zu fünf Monate für eine gelungene Querung braucht. Nach Ankunft sind 2000 bis 3000 Euro pro Person fällig. Das war aber vor der jüngsten Verstärkung der Sperrmaßnahmen.

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