Die Platte lebt – auch ohne die DDR

Imageaufbesserung für den einst unbeliebten Bezirk: die „Marzahn Hills“
Die Großsiedlung Marzahn war einst Vorzeigeprojekt der DDR, später Sinnbild der Wende-Verlierer. 25 Jahre nach der Einheit lebt die Platte wieder auf.

109 Mark!", sagt Wolfgang Sawatzki. "Nur 109 Mark für 61 Quadratmeter, und das bis zur Wende. Das müssen Sie sich mal vorstellen!" Der 68-Jährige steht in einer Wohnlandschaft, die zur Gänze aus der Zeit gefallen scheint. Der Boden, der Teppich, die Couch: alles DDR-Produkte. In der Küche steht ein DDR-Joghurtautomat namens Majomat, auf dem kleinen Tischchen daneben, auf einem Häkeldeckchen, liegt ein 70er-Jahre Bekleidungs-Katalog. Mit 70 Ostmark ist die Herrenhose darin angepreist. "Das war wirklich viel, bei 1200 Mark Durchschnittsverdienst", sagt Sawatzki.

Es ist eine längst verschwundene Welt, die der rüstige Rentner einem hier zeigt – er ist Führer in der DDR-Museumswohnung in Hellersdorf-Marzahn. 25 Jahre ist es am 3. Oktober her, dass die DDR aus den Atlanten dieser Welt getilgt wurde und eigentlich nur in Geschichtsbüchern weiterleben sollte. Doch so ganz verschwunden ist sie nie. Vor allem hier nicht, im Osten Berlins: Nirgends sieht Deutschland so sehr nach DDR aus wie in den Plattenbau-Großsiedlungen Marzahns, der wohl optisch größten Hinterlassenschaft des untergegangenen Arbeiter- und Bauernstaates.

Ossi-Sinnbild Cindy

Die Platte lebt – auch ohne die DDR
epa03470610 View of the apartment high rise 'Flower Tower' at Allee der Kosmonauten 145 in Berlin-Marzahn, Germany, 14 November 2012. According to the housing association Friedenshort, the apartment building 'Flower Power' is currently the highest piece of facade art in Europe. French artist group CiteCreation was responsible for decorating the 54 m high facade. EPA/ROBERT SCHLESINGER
Ein ungeliebtes Relikt der DDR-Zeit, das war der Bezirk mit seinen 170.000 Einwohnern auch nach der Wende noch lange. Die Stadt in der Stadt war bekannt als Wohnort für jene, die nach 1990 auf der Strecke geblieben waren. Cindy aus Marzahn, die Dicke im rosaroten Trainingsanzug, machte dieses Ossi-Stereotyp auch über die Grenzen hinaus bekannt. Ein lebendes Klischee – mit einem Kern Wahrheit: Jeder siebte Bewohner lebt auch heute noch an der Armutsgrenze, jeder Fünfte von staatlichen Transferleistungen – Hartz IV ist überall.

Wünscht man sich hier deshalb die DDR zurück? "Nein. Früher war ja auch nicht alles besser", sagt der Rentner Sawatzki. Er erinnert sich an die vielen Augen und Ohren der Stasi, die sogar anhand der Antennen am Dach wussten, wer im Haus Westfernsehen schaute. Oder an die Wartezeit auf sein Auto. Er schüttelt den Kopf: "Schwer war es nur für die, die nach der Wende keine Arbeit gefunden haben."

Sawatzki hat es besser getroffen. Er hat früher hier als Hausmeister gearbeitet, fand nach der Wende gleich eine Stelle. Marzahn blieb er aber immer treu, im Gegensatz zu anderen: Nach 1990 zog es viele in den Westen, weg aus der einstigen Traumwohnung aus Beton und mit Pappwaben-Türen. Von den knapp 50.000 Plattenwohnungen des DDRVorzeigeprojekts standen Tausende über lange Jahre leer. Zur Jahrtausendwende begann man, Komplexe ganz abzureißen.

Der Aufschwung kam nur langsam – aber auch durch die, die 1990 gegangen waren und später wieder kamen. So wie Suzanne Nguyen. "Ich find’s so schön hier", sagt sie und sieht aus dem Fenster. Seit 1995 wohnt die Ostdeutsche im Plattenbau, nur ein paar Straßen entfernt von der DDR-Museumswohnung. Sie wollte nicht mitansehen, wie der einst so beliebte Bezirk immer leerer wurde. "2004 haben wir deshalb die Pension ,Elfter Himmel’ gegründet", sagt sie. Der Himmel in Marzahn, das ist ein bunter Traum im grauen Plattenbau. Zwei ehemalige Ost-Wohnungen, die liebevoll durch die Bewohner des Hauses renoviert wurden – "für Touristen, die mal wissen wollen, wie es sich in der Platte so lebt", sagt Nguyen. Mittlerweile hat man es mit dem Konzept in japanische und koreanische Reiseführer geschafft. "Wir haben viele Gäste aus dem Ausland", sagt Nguyen. Viele Gäste kommen aber auch aus dem Westen, aus Berlin selbst, aus den hippen Bezirken Kreuzberg und Mitte: "Die erkennt man dann schon auf der Straße", sagt sie lachend.

Mittlerweile sind es aber nicht nur Touristen, die hierher kommen. Immer mehr Menschen suchen dauerhaft nach einer Wohnung in den DDR-Bauten. Eine zu finden, ist aber gar nicht mehr so einfach wie noch vor ein paar Jahren. Die Stadt hat die meisten Gebäude in den Nullerjahren saniert, seither lebt es sich hier ähnlich wie im Neubau – nur viel günstiger. "Die durchschnittliche Nettokaltmiete liegt bei rund 5,25 Euro pro Quadratmeter", sagt Frank Hadamczik von der Wohnbau-Gesellschaft Stadt und Land. In Mitte und anderen beliebten Bezirken zahle man oft das Zwei- bis Dreifache. Mehr als 14.000 Wohneinheiten verwaltet die Firma in Marzahn – leer stehen davon nicht mal mehr zwei Prozent. "Für viele Bürger wird das auch zukünftig noch das angesagte Wohnen sein, weil es bezahlbar ist", sagt er.

Imagepolitur

Bleibt nur noch das Imageproblem. Marzahn, das klingt uniform, grau und trist – dabei ist das alles Blödsinn, sagen Nicole Mühlberg und Karoline Köber. Die beiden Berlinerinnen haben ein Projekt entwickelt, um ihren Bezirk – mit Augenzwinkern – ein bisschen hipper zu machen: "Marzahn Hills", eine riesiges Schild im Hollywood-Stil, das als Wahrzeichen auf den Hügeln Richtung Stadtmitte zeigen soll. Wir wollen zeigen, "dass hier nicht nur trockene Betonwüste herrscht", sagen die beiden.

Ob das Projekt realisiert wird, steht in den Sternen. Herr Sawatzki jedenfalls fände es gut, wenn wieder mehr junge Leute kommen würden, auch aus dem Westen. "Früher war das mal der jüngste Bezirk Berlins", sagt der 68-Jährige. Er selbst will dafür weiterhin die Werbetrommel rühren – in der einstigen DDR-Einheitswohnung. "Die ist ja ein gutes Stück deutsche Geschichte."

9. November 1989: Das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski kündigt auf einer Pressekonferenz eher beiläufig an, die DDR werde mit sofortiger Wirkung die Grenzen öffnen. Bis in die Nacht strömen Tausende Besucher in den Westen.

28. November: Bundeskanzler Helmut Kohl legt im Bundestag einen Zehn-Punkte-Plan für die Wiedervereinigung vor.

10. Februar 1990: Kohl reist zum sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow nach Moskau. Gorbatschow sagt, es sei Sache der Deutschen, Zeitpunkt und Weg der Einigung zu bestimmen. In Ottawa beschließen die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges die Aufnahme von Zwei-plus-Vier-Verhandlungen mit beiden deutschen Staaten.

18. März: In der DDR finden erstmals freie Wahlen statt. Klarer Sieger ist die konservative Allianz mit der CDU an der Spitze.

2. Mai: Bonn und Ost-Berlin einigen sich nach Demonstrationen in der DDR auf eine Währungsumstellung von Löhnen, Gehältern und Renten im Verhältnis eins zu eins.

5. Mai: Auftakt der Zwei-plus-Vier-Gespräche. USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich verhandeln mit den beiden deutschen Staaten über außen- und sicherheitspolitische Aspekte der Wiedervereinigung.

1. Juli: Die Wirtschafts- und Währungsunion tritt in Kraft. Die DDR stellt auf D-Mark um. Die Personenkontrollen an der innerdeutschen Grenze fallen weg.

16. Juli: Kohl und Gorbatschow verkünden im Kaukasus: Deutschland bleibt Nato-Mitglied. Sowjetische Truppen werden aus der DDR abgezogen.

31. August: In Ostberlin wird der deutsch-deutsche Einigungsvertrag unterschrieben.

12. September: Die USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich unterzeichnen in Moskau den "Vertrag über abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland". Kernpunkt: Deutschland erhält volle Souveränität.

3. Oktober: Um 00.00 Uhr wird zu den Klängen des Deutschlandliedes vor dem Reichstagsgebäude in Berlin die schwarz-rot-goldene Flagge aufgezogen.

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