Ukraine: Runder Tisch ohne Separatisten

Kiew versucht, die Einheit zu retten. USA zeigen Bilder von russischen Truppen an Grenze zur Ukraine.

Eine Entspannung im Konflikt ist nicht in Sicht: Bei neuen Gefechten nahe der ostukrainischen Stadt Slawjansk haben pro-russische Kräfte nach eigenen Angaben mindestens acht Soldaten der Regierungstruppen getötet und sieben verletzt. Die US-Regierung hat außerdem erneut Luftbilder veröffentlicht, auf denen russische Truppen an der Grenze zur Ukraine zu sehen sein sollen. Auf den Bildern, die unter anderem über den Twitter-Account der US-Gesandtschaft bei der Nato in Brüssel verbreitet wurden, sollen unter anderem Hubschrauber und Armeefahrzeuge nahe der ukrainisch-russischen Grenze zu sehen sein. Wladimir Putin hatte am Mittwoch erklärt, die Truppen abgezogen zu haben. Das bestätigten aber weder die USA noch die Nato.

Runder Tisch

Nach dem Referendum in der Ostukraine über eine Loslösung vom Rest des Landes laufen die diplomatischen Bemühungen neuerlich an. Am Dienstag traf Deutschlands Außenminister Steinmeier in Kiew ein. Am Mittwoch soll dort ein „Runder Tisch“ unter Beteiligung der OSZE, der Übergangsregierung und ukrainischer Ex-Staatschefs stattfinden. Auch Wissenschaftler, Abgeordnete, Geistliche und Wirtschaftsvertreter sollen teilnehmen. Die Separatisten sind offenbar nicht willkommen.

Steinmeier verwies bei seinem Besuch auf die Wichtigkeit der Präsidentenwahlen am 25. Mai. Die Wahlen werden auch ein Thema des Treffens am Mittwoch sein. Die Separatisten und mit ihnen verbündete Behördenvertreter in den Regionen Donezk und Lugansk hatten ja angekündigt, die Wahlen nicht vorbereiten zu wollen.

Die Versuche der Regierung wirken in Anbetracht der geschaffenen Tatsachen jedoch mehr als verzweifelt. In Donezk schlug der Gouverneur der Region, Taruta, ein landesweites Referendum über eine Föderalisierung vor. De facto hat Kiew aber kaum mehr Einfluss.

Wieder Tote

Aus Sicht der Separatisten ist die Unabhängigkeit besiegelt. Derart stellt sich die Frage, was es zwischen ihnen und Kiew zu verhandeln gibt. Kiew-loyale Truppen und Sicherheitskräfte werden von den Aufständischen als Okkupatoren betrachtet.

Die Anti-Terror-Operation der Regierung gegen die Separatisten scheint festzustecken. Am Dienstag kostete sie sechs ukrainischen Soldaten das Leben. Auch durchaus Kiew-freundlich gesinnte Menschen in Donezk kritisieren die Operation. „Jedes Mal, wenn es zu einer Aktion kommt, bekommen die Menschen Angst“, sagt ein Mann. „So kommen wir nicht weiter.“ Nur ein Dialog könne zu einer Lösung führen.

In Kiew pendelt die Stimmung auf den Straßen indes zwischen Kampfeswille und Resignation. Ein Moderater sagt: „Besser ein Ende mit Schrecken als Schrecken ohne Ende – lassen wir sie doch.“ Ein Mann in Kampfanzug sagt: „Wir müssen kämpfen. Wo soll Russland enden? An der ungarischen Grenze?“ Allen Lagern ist gemein: Sie sehen Moskau hinter der Rebellion. Den Gesprächen geben sie wenig Chancen: „Solange Russland seine Politik nicht ändert, wird es keine Lösung geben“, so ein Moderater.

Der ukrainische Übergangspremier Aresni Jazenjuk hat am Dienstag angekündigt, an Russland die ausstehenden Gasrechnungen zu zahlen, wenn der Preis marktkonform sei. Bei 268 Dollar (194,70 Euro) pro tausend Kubikmeter "wird die Ukraine in zehn Tagen die Ausstände bei den Gasrechnungen zahlen", so Jazenjuk nach einem Treffen in Brüssel mit EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso.

Allerdings müsse zunächst ein Deal mit Russland unterzeichnet werden. Die Ukraine habe Gazprom eine Vorwarnung geschickt und Russland aufgefordert, das Verfahren nochmals zu überarbeiten. Sollte Russland aber ablehnen, "werden wir Moskau vor Gericht in Stockholm ziehen". Jazenjuk kritisierte auch, dass Moskau die Terroristen in der Ostukraine unterstütze, um das Land zu destabilieren. "Russland wird scheitern. Russland wird es nicht schaffen, die Ukraine scheitern zu lassen".

Ultimatum

Der russische Energiekonzern Gazprom hatte der Ukraine für Gaslieferungen im Juni 1,66 Mrd. Dollar (1,21 Mrd. Euro) in Rechnung gestellt, der ukrainische Versorger Naftogaz sei aufgefordert worden, die Summe bis 2. Juni zu überweisen, sagte Gazprom-Sprecher Sergej Kuprianow am Dienstag laut russischen Nachrichtenagenturen.

Gazprom hatte am Montag damit gedroht, seine Erdgaslieferungen an die Ukraine ab dem 3. Juni einzustellen. Kiew wurde aufgefordert, seine Rechnungen für Juni wegen ausstehender Schulden im Voraus zu bezahlen. Die Lieferung umfasse nach einer Schuldentilgung laut Vertrag 114 Millionen Kubikmeter Gas pro Tag.

Vollpreis

Die von der Pleite bedrohte Ukraine erhielt jahrelang verbilligtes Gas aus dem Nachbarland. Nach dem Sturz des prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch im Februar hat Moskau die Rabatte aber gestrichen und verlangt nun den vollen Preis. Kiew muss für russisches Gas inzwischen europaweit einen der höchsten Preise zahlen. Die Übergangsregierung weigert sich bisher zu zahlen. Nach Gazprom-Angaben steht die Ukraine inzwischen mit mehr als 3,5 Milliarden Dollar bei dem Konzern in der Kreide.

Bei einer Drosselung der Lieferungen an die Ukraine wäre auch die Gasversorgung für viele EU-Staaten in Gefahr. Vertreter von der Europäischen Union (EU), Russland und der Ukraine trafen sich am Montag in Brüssel, um ein neues trilaterales Spitzentreffen mit EU-Energiekommissar Günther Oettinger zur Beilegung der Gasstreits vorzubereiten. Das Expertengespräch habe Hindernisse ausräumen können, sagte Oettingers Sprecherin im Anschluss. Datum und Ort des Treffens nannte sie jedoch nicht. Nach russischen Angaben könnte das Treffen am 16. Mai in Athen stattfinden.

Ein Mann um die 40 steht an einer Busstation in Donezk im morgendlichen Berufsverkehr. Er hat eine Ledertasche unter den Arm geklemmt. Auf die Frage, ob er denn am Referendum teilgenommen hat, schweigt er mit eiserner Miene ohne einen Blick auszutauschen. Der Bus bleibt stehen. Die Wartenden steigen ein. Der Bus fährt ab. Der Mann bleibt alleine zurück und sagt: "Nein". Nicht mehr und nicht weniger. Er verzieht keine Miene dabei. Dann dreht er sich um.

"Bärte und Schwänze"

Weitaus wortgewaltiger in ihren Ausführungen sind dagegen solche, die an der Abstimmung teilgenommen haben. Sie feiern "unseren Triumph", wie es einer nennt. Sei es über die "Faschisten in Kiew", wie es viele ausdrücken, über Europa, die USA. Auf die Toilettencontainer neben dem besetzten Regierungsgebäude in Donezk hat einer in fetten Lettern "Europa" geschrieben. Darunter hat einer "... geh in den Arsch" gekritzelt. Und ein Mann in einem ausgebeulten Trainingsanzug sagt mit Häme: "Bei euch im Westen Europas haben die Frauen ja Bärte und Schwänze."

Laut den Separatisten haben in Donezk 89 Prozent für eine Loslösung von der Ukraine votiert. In Lugansk waren es angeblich sogar 96 Prozent. Es war ein Votum ohne Wählerlisten, ohne jegliche Kontrolle der Auszählung, die Initiatoren stellten die Wahlkommission und jeder konnte so oft abstimmen wie er wollte. Wladimir Putin, Russlands Präsident, erkannte das Referendum am Montag wenn auch nicht ausdrücklich, so doch prinzipiell an. Er nannte das Votum laut einem Sprecher einen Ausdruck des Volkswillens, der respektiert werden müsse. Es gehe darum, das Ergebnis in "zivilisierter Art und Weise ohne Gewalt und durch einen Dialog" umzusetzen.

In Kiew schäumt man derweil. Übergangspräsident Alexander Turtschinow sprach von einer Farce. Das Referendum sei in keiner Weise rechtlich bindend. Morgen, Mittwoch, soll jedenfalls ein Treffen zwischen Vertretern der Ostukraine und der ukrainischen Regierung in Kiew stattfinden, wo über eine friedliche Beilegung der Krise beraten werden soll.

Loslösung von Ukraine

Unklar ist jedoch, wie ein Kompromiss aussehen könnte. Aus der Sicht der Separatisten ist die Loslösung von der Ukraine besiegelt. Die Region Lugansk sagte sich am Montag von der Ukraine los – und hat bereits die Vereinten Nationen gebeten, ihre Unabhängigkeit anzuerkennen. Zudem wird die Region an der am 25. Mai angesetzten Präsidentschaftswahl nicht teilnehmen, meldete die russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti. Ein Referendum über den Anschluss an Russland werde erwogen.

In der Region Donezk wurde bereits die Bildung einer Regierung und einer Armee bekannt gegeben. Auch diese Region wird nicht an den Präsidentschaftswahlen teilnehmen. Stattdessen sei die Aufnahme der Region Donezk in die Russische Föderation, "wahrscheinlich ein angemessener Schritt", sagte der führende Separatist Roman Liagin am Montag.

Um die Stadt Donezk bauten die Separatisten am Montag ihre Stellungen aus, errichteten zusätzliche Straßenblockaden. Mindestens ein Panzerfahrzeug war an einem Checkpoint zu sehen. Und in der Stadt selbst ist von den ukrainischen Behörden so gut wie nichts mehr sichtbar. Auf dem Lenin-Platz wehen sowjetische und russische Fahnen. Die wichtigsten lokalen TV-Stationen der Region sind in der Hand der Separatisten. Und die machen kräftig Werbung für ihre Sache und gegen alle möglichen Feinde.

Ein Mann, der sich als "absoluter Pazifist" bezeichnet und beim Referendum nicht abgestimmt hat, sagt: "Sie haben den Menschen hier so lange erzählt, dass schwarz eigentlich weiß ist, dass sie begonnen haben, zu glauben, dass weiß eigentlich schwarz ist." Das Drama an der Sache, wie er es nennt: "Alle beteiligten Parteien machen das."

"Ein Albtraum"

"Wo sind denn die 70 Prozent Gegner einer Loslösung? Wo?", sagt Tanya, eine junge Frau an einer Kreuzung. Sie spielt auf Umfragen aus Kiew an, laut denen 70 Prozent der Bewohner des Donbass gegen die Unabhängigkeit und gegen einen Anschluss an Russland sind. Einen "Albtraum nennt sie das, was sich in ihrer Stadt dieser Tage abspielt". Sie blickt zu Boden und sagt: "Das ist nicht die Stadt, in der ich geboren wurde, in der ich aufgewachsen bin." Da biegt ein schwarzer Van mit getönten Scheiben um die Ecke. Ein Fenster ist offen. Am Steuer sitzt ein riesiger Mann mit schwarzer Sturmhaube und schwarzer Schutzweste. Am Beifahrersitz sitzt ein schwarz gekleideter Kämpfer mit einer AK-47 samt Granatwerfer zwischen den Knien. Tanya blickt dem Auto nach und sagt: "Meine Koffer habe ich schon gepackt, losgehen kann es jederzeit."

Vor einer Kirche im Zentrum steht eine hagere alte Frau. Sie habe gehört, dass um Donezk Panzer postiert worden seien – ohne zu wissen von wem. Sie habe auch gehört, dass es Kämpfe geben würde in Donezk, dass die Armee versuchen werde, in die Stadt zu kommen.

Militäraktionen

In der gesamten Ostukraine finden derzeit Militäraktionen von Armee, Truppen des Innenministeriums und der Nationalgarde statt. Ob sie auf verlorenem Posten kämpfen, ist schwer zu sagen. Machen sie Gefangene, übergeben sie sie jedenfalls nicht der lokalen Polizei – denn die ist praktisch geschlossen aufseiten der Separatisten. Zum Teil sollen Gefangene bei pro-ukrainischen Paramilitärs gelandet sein. Das treibt die Armee wiederum in eine legale Grauzone und macht ihre Antiterror-Operation, wie es die Regierung in Kiew nennt, zunehmend unbeliebt. Zugleich werden die Separatisten anscheinend mit jedem Tag stärker und schaffen durch Straßenblockaden Tatsachen – was die Armee in Zugzwang bringt.

Ob sich auch die Deutschen am Krieg beteiligen würden, will die alte Dame wissen. Sie habe gehört, die Faschisten kämen wieder hierher. Sie bekreuzigt sich und geht.

Das politische Drehbuch ist seit der Krim-Krise bekannt. Erst stimmt die russophile Bevölkerung in einem Referendum über die Abspaltung von der Ukraine ab. Dann erklärt man sich unabhängig – und wird von Russland annektiert. Dieses Mal aber gibt es eine kleine Änderung der Handlung. Das lässt hoffen, dass die beiden ostukrainischen Regionen Lugansk und Donezk nicht auch schon nächste Woche ein Teil Russlands sein werden. Denn Moskau "respektiert" zwar das Ergebnis der skurrilen Volksabstimmung, hat es aber formal nicht anerkannt.

Damit hält sich Präsident Putin alle Optionen offen: Kiew soll unter Druck gesetzt werden, den Regionen mehr Autonomierechte zuzugestehen. So könnte sich der Ostteil des Landes Russland zuwenden, wenn der Westen sich hin zur EU orientiert. Aber der Epilog dieses Dramas ist noch nicht geschrieben. Angesichts des Blutzolls, der Menge an Waffen und der unübersichtlichen politischen Spiele steht zu befürchten, dass sich die Ostukraine in eine Gewalt- und Chaoszone verwandelt, die sich nicht einmal die rabiatesten Separatisten gewünscht haben können.

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