Türkei: Die EU drückt alle Augen zu

Präsident Recep Tayyip Erdogan
Brüssel setzt auf die Türkei als Partner in der Flüchtlingspolitik – und ignoriert Demokratieabbau.

Manchmal bringt es Bekir Bozdag einfach nicht über sich, seine Akten zu lesen. So unerhört seien die Beleidigungen gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan, dass er erröte, sagte der türkische Justizminister vor einigen Tagen. Bozdag, strammer Gefolgsmann Erdogans, konnte aber auch berichten, dass die Justiz den Gegnern des Präsidenten auf den Fersen sei: Sage und schreibe 1845 Verfahren wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung sind seit Erdogans Amtsantritt vor anderthalb Jahren eingeleitet worden.

Beim EU-Türkei-Gipfel am Montag wird der Club der europäischen Demokratien bekräftigen, dass er sich beim Thema Flüchtlingskrise voll und ganz auf die Türkei verlässt. Ankara soll die Flüchtlingszahlen senken und kann im Gegenzug etwa mit Fortschritten im EU-Beitrittsprozess rechnen. Die Türkei gewinnt ausgerechnet zu einem Zeitpunkt an Bedeutung, zu dem Regierungskritiker erhebliche Rückschritte bei Demokratisierung und Rechtsstaat beklagen.

EU-Spitzen müssten nicht lange nach Beispielen suchen. Während Ratspräsident Donald Tusk am Donnerstag und Freitag bei Treffen mit der türkischen Führung in Ankara und Istanbul den Gipfel vorbereitete, ließ Erdogan während einer Auslandsreise erkennen, dass er zwei vergangene Woche vom Verfassungsgericht freigelassene Oppositionsjournalisten wieder ins Gefängnis bringen will. Das Urteil des obersten Gerichts erkennt er nicht an. "Die Angelegenheit ist noch nicht beendet", sagte der Präsident. Erdogan hofft auf Einspruch der Staatsanwaltschaft und eine neue Inhaftierung der Reporter.

Gleichzeitig nahm die Polizei im zentralanatolischen Kayseri die Chefs des Konzerns Boydak Holding fest, denen Verbindungen zur Bewegung des islamischen Predigers Fethullah GülenErdogans Erzfeind – nachgesagt werden. Kritiker werfen der Regierung eine Hexenjagd auf Gülen-Anhänger vor. Die Gülen-nahe Zeitung Zaman, das nach eigenen Angaben auflagenstärkste Blatt des Landes, wurde am Freitag unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt – die Übernahme der Mediengruppe durch die Regierung wurde angeordnet, während Tusk mit Erdogan sprach.

Feldzug gegen Kritiker

Unterdessen treibt Erdogans juristischer Feldzug gegen Kritiker immer neue Blüten. Einer der Betroffenen ist Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu, der Erdogan einen "Möchtegern-Diktator" genannt hatte. In einem Fall zeigte ein Mann seine eigene Ehefrau an, weil diese den Präsidenten beleidigt haben soll. Festnahmen wegen des Anfangsverdachts der Präsidentenbeleidigung, die mit bis zu vier Jahren Haft bestraft werden kann, sind inzwischen an der Tagesordnung.

Im Parlament dringt Erdogans Partei AKP darauf, die Immunität kurdischer Abgeordneter aufzuheben, um sie vor Gericht stellen zu können. Die Sicherheitskräfte und die PKK-Rebellen liefern sich in Südostanatolien seit Monaten wieder schwere Gefechte, bei denen bereits mehr als tausend Menschen ums Leben gekommen sind.

Umstrittener Partner

Die Zustände werfen die Frage auf, wie verlässlich die Türkei bei der Zusammenarbeit mit der EU sein wird. Nicht nur im Inland geht die Führung mitunter ruppig vor. Erdogan drohte den Europäern im November damit, Flüchtlinge in Bussen nach Westeuropa zu schicken. EU-Minister Volkan Bozkir warnt, sein Land könne die geplante Rücknahme von abgelehnten Asylbewerbern aus Europa stoppen, wenn die EU nicht bis November die Visapflicht für Türken aufhebe.

Türkei: Die EU drückt alle Augen zu
A woman looks at a building, which was damaged during the security operations and clashes between Turkish security forces and Kurdish militants, in the southeastern town of Cizre in Sirnak province, Turkey March 2, 2016. REUTERS/Sertac Kayar

Angesichts des wieder aufgeflammten Kurdenkonflikts warnen Kritiker davor, die Türkei als sicheren Drittstaat einzustufen, was die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber erleichtern würde. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl erklärte, Flüchtlingen drohe in der Türkei eine völkerrechtswidrige Abschiebung in die Herkunftsländer. Ankara arbeitet derzeit an Rückübernahmeabkommen mit 14 Staaten, um aus Europa in die Türkei zurückgeschickte Flüchtlinge weiter abschieben zu können.

Keine Alternative

Regierungskritische Beobachter wie Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk werfen der EU vor, aus Rücksicht auf die Kooperation mit Ankara einen fortschreitenden Demokratie-Abbau in der Türkei zu ignorieren. "Sie haben all ihre Werte vergessen", sagte Pamuk kürzlich. Solange die Türkei das tue, was Europa in der Flüchtlingsfrage wolle, verschließe die EU die Augen vor den Entwicklungen bei dem Beitrittskandidaten.

Europäische Diplomaten räumen hinter vorgehaltener Hand ein, dass sich die EU mit Rücksicht auf die Flüchtlingskrise und die türkische Rolle im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) in Syrien tatsächlich sehr mit Einwänden gegen Erdogans innenpolitischen Kurs zurückhält. Allerdings sieht Brüssel keine Alternative zu dieser Linie. Immerhin bestehe das Risiko, die Türkei als Verbündeten zu verlieren, sagt ein europäischer Diplomat. Ein "Eindreschen" auf die Regierung in Ankara ändere nichts.

Vor dem EU-Türkei-Gipfel zur Flüchtlingskrise am Montag in Brüssel ist man in diplomatischen Kreisen darum bemüht, die Erwartungen zu dämpfen. Niemand geht davon aus, dass dieses Treffen große Probleme unmittelbar wird lösen können.

Das Grundproblem in den Verhandlungen zwischen Brüssel und Ankara: Die türkische Regierung erwartet sich für ihre Anstrengungen in der Steuerung der Flüchtlingsströme größere Gegenleistungen als die EU-28 zu leisten bereit sind.

Das betrifft einerseits die Visa-Bestimmungen für Türken, die in den Schengen-Raum reisen wollen: Die EU hat der Türkei Visa-Erleichterungen ab Oktober versprochen. Präsident Recep Tayyip Erdogan hat das allerdings als Visa-Freiheit interpretiert – und auch schon so verkauft.

Andererseits geht es ums Geld: Die EU-Staaten haben der Türkei drei Milliarden Euro zugesagt, wenn sie mithilft, den Flüchtlingsandrang Richtung Europa zu bremsen. In Diplomatenkreisen heißt es, die Regierung Erdogan würde dies als Anreiz, sondern maximal als Anzahlung verstehen: Größere Summen würden notwendig sein, um die Kooperation Ankaras mittelfristig zu sichern.

In irgendeiner Form wird es wohl Zugeständnisse seitens der Europäer geben müssen: Erdogan macht Druck, schon rund um den ersten EU-Türkei-Gipfel Ende November hat er gedroht: "Wir können die Türen nach Griechenland und Bulgarien jederzeit öffnen."

Die Forderung aus Brüssel, die Türkei solle weiterhin Syrer aufnehmen, sie aber nicht mehr nach Europa weiter ziehen lassen, konterte er, man solle die Türken nicht für "Dummköpfe" halten.

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