Alle Macht für Erdogan

Der türkische Präsident verfolgt bei den Parlamentswahlen kommenden Sonntag seine eigenen Ziele.

Es ist wie beim Auftritt eines Superstars. "Seid Ihr bereit?" ruft der Einpeitscher. Tausende Anhänger des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan winken mit rot-weißen Landesfahnen mit Halbmond und Stern. "Die Türkei ist stolz auf dich", ruft die Menge. Erdogan betritt die Bühne, begrüßt das Publikum und legt los. Die Parlamentswahl am 7. Juni sei ein "Wendepunkt in der Geschichte unserer Demokratie", sagt er. Unverhohlen wirbt er für seine frühere Partei AKP, obwohl er sich als Staatspräsident eigentlich aus der Tagespolitik heraushalten müsste.

Reden

Erdogans Reden auf den Marktplätzen überall in der Türkei folgen immer demselben Muster: Er lobt die Leistungen der AKP in den vergangenen Jahren – Autobahnen, Brücken, Schuldenrückzahlung beim Internationalen Währungsfonds (IWF) – und attackiert die Oppositionsparteien. Hin und wieder tritt der fromme Muslim mit dem Koran in der Hand auf.

Da er seine Ansprachen offiziell nicht als Wahlkampfauftritte bezeichnen darf, nutzt der Präsident jeden erdenklichen Anlass, um seine Botschaften an die 54 Millionen Wähler loszuwerden. Häufig spricht er bei der Einweihung öffentlicher Bauprojekte. Zuletzt beehrte er die Jahresversammlung des Busfahrer-Verbandes.

Dass Erdogan einen Wahlkampf prägt, an dem er eigentlich nicht teilnehmen darf, hat einen einfachen Grund: Am 7. Juni geht es um die politische Zukunft des 61-jährigen Staatsoberhauptes. Erdogan möchte die parlamentarische Demokratie der Türkei durch ein Präsidialsystem ersetzen – mit ihm selbst an der Spitze, versteht sich. Seine Gegner sprechen von der Gefahr einer Diktatur.

Absolute Mehrheit Ob die Türken ihrem Präsidenten am 7. Juni folgen werden, ist ungewiss. Erdogan weiß aus Umfragen, dass die AKP an Zuspruch verliert und möglicherweise sogar um ihre absolute Mehrheit im Parlament bangen muss. Die zunächst als Ziel genannte Zahl von 400 Abgeordneten zur Durchsetzung des Präsidialsystems per Verfassungsänderung ist nicht zu erreichen. Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung, die nachlassende Konjunktur und die steigende Arbeitslosigkeit machen der AKP zu schaffen. Nach einer Studie der Istanbuler Koc-Universität haben 48 Prozent der Türken den Eindruck, es gehe mit der Wirtschaft bergab.

Und doch dürfte die Erdogan-Partei am Wahltag mit 40 bis 45 Prozent stärkste politische Kraft der Türkei bleiben. Warum das so ist, kann ein Normalbürger wie Mesut gut erklären. Mesut, Ende 40, ist Kleinunternehmer und verdient seinen Lebensunterhalt als Spediteur mit einem einzigen, nicht mehr ganz neuen Kleinlaster. Er ist stolz auf seinen bescheidenen Wohlstand und auf den sozialen Aufstieg seiner Familie – seine Tochter studiert Betriebswirtschaft und will in einer Bank arbeiten. Solche Perspektiven wären vor 15 Jahren für jemanden wie Mesut undenkbar gewesen."Tayyip hat das Land nach vorne gebracht, er ist ein starker Politiker, die Leute mögen das", sagt Mesut, der wie viele Türken den Präsidenten beim Vornamen nennt. Er werde am 7. Juni wieder der Erdogan-Partei die Stimme geben, weil er um die politische Stabilität des Landes fürchte, wenn die AKP die Mehrheit verlöre. Eine Alternative zur AKP sehe er nicht, sagt Mesut. Der ungeschickt agierende säkuläre Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu etwa komme nicht in Frage: "Dem gibst du zehn Schafe, auf die er aufpassen soll, und er verliert fünf davon."

Stammwähler

Leute wie Mesut bilden die kleinbürgerlich-konservative Stammwählerschaft der AKP. Doch Erdogan will mehr. Im neuen Parlament braucht er mindestens 330 Abgeordnete, um Verfassungsänderungen für das Präsidialsystem einzuleiten. Ob das für die AKP erreichbar ist, hängt nicht zuletzt vom Abschneiden der kleinen Kurdenpartei HDP ab. Weder Kilicdaroglus CHP mit etwa 25 Prozent Wähleranteil noch die nationalistische MHP mit rund 15 Prozent können mit großen Zugewinnen rechnen. Doch wenn die HDP den Sprung über die für den Parlamentseinzug geltende Zehn-Prozent-Hürde schafft und mit mindestens 60 Abgeordneten in die Volksvertretung einzieht, dürfte Erdogans Traum vom Präsidialsystem geplatzt sein. Laut Umfragen stehen die Chancen für die HDP nicht schlecht.

Erdogan hat die Gefahr erkannt und widmet sich ausführlich der HDP, die er als Partei bezeichnet, die von Terroristen – gemeint ist die kurdische Rebellengruppe PKK – unterstützt werde. Doch es ist offen, ob Erdogans Feuerwehreinsatz das Projekt des Präsidialsystems retten kann. Vizepremier Bülent Arinc, der zu den Mitbegründern der AKP zählt, rückte bereits vom obersten Wahlziel des Staatschefs ab und erklärte, die Einführung des Präsidialsystems sei nicht die vordringliche Absicht der AKP.

Als Selahattin Demirtas in die Saiten griff, bewies er wieder einmal, dass er kein gewöhnlicher türkischer Parteichef ist. Der Vorsitzende der "Demokratischen Partei der Völker" (HDP) nutzte vor einigen Tagen einen Live-Auftritt im Fernsehen, um den Zuschauern ein Lied auf der Saz vorzuspielen, der türkischen Laute. Singen kann Demirtas auch. Mit seinen 42 Jahren könnte der Anwalt aus dem ostanatolischen Elazig bei der Parlamentswahl am 7. Juni dem sieggewohnten Präsidenten Recep Tayyip Erdogan die Flötentöne beibringen.

Mindestens zehn Prozent der Wählerstimmen braucht eine Partei in der Türkei, um ins Parlament zu kommen. In den Umfragen liegt die HDP einmal unter, einmal über dieser Marke – Tendenz steigend. Das kommt einer kleinen Revolution gleich, denn noch vor Kurzem mieden die Wähler des türkischen Establishments die Kurdenpartei, der eine enge Verbindung mit den PKK-Kurdenrebellen vorgeworfen wird.

Gegen Erdogans Macht

Doch jetzt haben nicht-kurdische Erdogan-Gegner in der Wählerschaft die HDP für sich entdeckt: Sie hoffen, dass Erdogans Griff nach noch größerer Macht in einem Präsidialsystem mit Hilfe der Kurdenpartei verhindert werden kann. In ihrer Wahlstrategie geht die Partei deshalb weit über die rein kurdische Anhängerschaft hinaus.

Demirtas hat an der Attraktivität seiner Partei für nicht-kurdische Wähler erheblichen Anteil. Er ist schlagfertig, telegen und eine ganze Generation jünger als Erdogan und andere türkische Parteichefs. Blogger Abdullah Saygili nannte Demirtas ein "Phänomen".

Selbst Erdogan kommt an dem jungen Parteichef nicht vorbei. Demirtas spiele die Saz ganz gut und habe wohl auch eine schöne Stimme, sagte der Präsident nach dem Fernsehauftritt des HDP-Chefs. "Sie haben da einen Popstar hervorgebracht, ich wünsche ihm viel Glück", sagte Erdogan. Damit wollte er Demirtas wohl als politisches Leichtgewicht abtun – doch es klang, als zolle der mächtige Präsident dem politischen Aufsteiger Respekt.

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