Separatisten werden entwaffnet

Unerwartete Fortschritte bei den Gesprächen in Genf: Russland stimmte Deeskalation zu.

An eine Einigung zwischen Russland und dem Westen bei den Krisengesprächen in Genf hätte kaum jemand geglaubt. Doch am Donnerstagabend die überraschende Meldung: Russland hat der Forderung nach Entwaffnung separatistischer Kräfte im Osten der Ukraine zugestimmt. Zudem müssten sie alle besetzten Gebäude verlassen, sagte Russlands Außenminister Sergej Lawrow am Donnerstagabend vor Reportern. Alle Seiten seien sich einig, Schritte zur Deeskalation zu unternehmen, so Lawrow. Dazu gehöre auch der Verzicht auf Gewalt. Die Außenminister der Ukraine, Russlands und der USA sowie die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton sprachen in der Niederlassung der Vereinten Nationen erstmals gemeinsam über die dramatischen Entwicklungen im Osten der Ukraine.

Nach Entspannung sah es zuletzt in der Ostukraine nicht aus: Bei Kämpfen rund um einen Militärstützpunkt in der Großstadt Mariupol sind drei pro-russische Separatisten getötet worden. Dies teilte der ukrainische Innenminister Arsen Awakow Donnerstagfrüh auf Facebook mit. 13 Angreifer seien zudem verwundet worden, 63 konnten festgenommen worden, erklärte Awakow weiter. Laut früherer Medienberichte hatten rund 500 zum Teil maskierte prorussische Aktivisten am Mittwochabend die Kaserne umstellt und die Soldaten aufgefordert, alle Waffen auszuhändigen. Ein Einsatzfahrzeug soll in Flammen aufgegangen sein. Schüsse hätten auch zwei nahe Wohnungen getroffen. Die Anrainer seien aus Angst vor austretendem Gas geflüchtet.

Mariupol mit mehr als 450.000 Einwohnern liegt nahe der russischen Grenze. Dort - wie auch in mehreren aneren Orten der Ostukraine - halten moskautreue Separatisten seit Tagen Verwaltungsgebäude besetzt. Sie fordern einen föderalen Staat mit weitgehenden Autonomierechten für das russisch geprägte Gebiet. Zahlreiche ukrainische Soldaten waren am Mittwoch zu den Separatisten übergelaufen.

Einreisebestimmungen verschärft

Die Ukraine hat indes die Einreisebestimmungen für Russen und Einwohner der abtrünnigen Halbinsel Krim nach Angaben der staatlichen russischen Fluglinie Aeroflot massiv verschärft. Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren würden nur noch ins Land gelassen, wenn sie aus familiären oder beruflichen Gründen einreisen wollten und dies mit Dokumenten belegen könnten. Das hätten die ukrainischen Behörden mitgeteilt, betonte Aeroflot am Donnerstag in Moskau. Zudem würden 20 bis 35 Jahre alte Frauen von der Krim besonders kontrolliert, Familien mit Kindern hingegen ohne Kontrolle durchgelassen. Die Airline kündigte an, Tickets in die Ukraine kostenlos zurückzunehmen.

Putin lässt alles offen

Früher am Donnerstag hatte Russlands Präsident Wladimir Putin in der Live-Sendung „Direkter Draht“ Bürgerfragen beantwortet. Zur Krim hatte Putin gleich zu Beginn etwas zu sagen, was verwunderte: Er räumte die Präsenz russischer Truppen dort ein – das Militär sei „während des Referendums dort gewesen, um die Sicherheit zu gewähren und die Selbstverteidigungskräfte zu unterstützen“, sagte Putin. In der Ostukraine sei aber im Moment kein russisches Militär vertreten.

Schwere Verbrechen

Separatisten werden entwaffnet
Journalists work at a media centre as they cover Russian President Vladimir Putin's live broadcast nationwide phone-in, in Moscow April 17, 2014. Putin said on Thursday Ukraine's decision to send armed forces into eastern Ukraine instead of trying to establish a dialogue with the Russian-speaking population there was a "grave crime." In a televised call-in with the nation, Putin said crisis talks being held in Geneva were "very important" and urged the government in Kiev to sit down to talks with Russian-speaking communities in the east of the country. REUTERS/Sergei Karpukhin (RUSSIA - Tags: POLITICS MEDIA)
Was Kiew dort tue, sei aber klar zu verurteilen: Bewaffnete Einheiten in den Osten des Landes zu entsenden, sei ein „weiteres schweres Verbrechen“. Und: „Kiew wird dafür bezahlen, wie es die Spezialeinheiten während der Eskalation behandelt hat" – die Einheit Berkut wurde bekanntlich nach dem Machtwechsel aufgelöst, weil ihnen die Tötung von Aktivisten zur Last gelegt worden war.

Aus Sewastopol kam Applaus dafür: „Danke, dass Sie uns in die Heimat geholt haben. Aber was sollen wir dagegen tun, dass die kriminelle Regierung in Kiew unsere Interessen ignoriert?“, lautete die Frage eines älteren Mannes. Putin wiederholte, was er zu diesem Punkt immer sagt: Janukowitsch wurde mit einem Staatsstreich abgesetzt, die Kiewer Regierung sei illegitim.

"Neurussland"

Wie es im Osten weitergehe, werde man sehen - aber man solle nicht vergessen, dass die Regionen im Osten in der Zarenzeit immer russisch waren, damals hieß die Region "Neurussland". Die russische Duma habe eine Intervention in der Ukraine genehmigt; dennoch setze er im Moment auf Diplomatie - "ich hoffe auf eine friedliche Lösung."

Gespräch Snowden-Putin

Auch einen anderen geopolitisch bedeutsamen Aspekt hat Wladimir Putin in der TV-Sendung erörtert - und zwar gemeinsam mit dem früheren US-Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden: Sie haben über die weltweite Massenausspähung der USA gefachsimpelt. Er habe ja auch eine Beziehung zur Agententätigkeit gehabt, deshalb sprächen beide doch die gleiche Sprache, sagte der Ex-Geheimdienstchef Putin.

"Gibt es in Russland auch eine solche Massenausspähung?", fragte Snowden in einer Video-Zuschaltung in Putins TV-Sendung "Direkter Draht". "Natürlich erlauben wir uns nicht solche massenhaften Ausmaße, solch ein unkontrolliertes Ausmaß", sagte Putin. Er hoffe auch, dass es dazu nicht kommen werde.

"Ja, wir haben nicht die technischen Mittel und nicht das Geld wie in den Vereinigten Staaten", sagte Putin. Er behauptete auch, dass dies in Russland so nicht möglich sei, weil die Geheimdienste sich "unter strenger Kontrolle der Regierung und der Gesellschaft" befänden und ihre Aktivitäten gesetzlich geregelt seien.

Russische Menschenrechtsaktivisten beklagen, dass unter Putin die Vollmachten der Geheimdienste in den vergangenen Jahren systematisch ausgeweitet worden seien und die Dienste außerhalb des Rechts agierten. Russland hatte dem von den USA gesuchten Snowden im vergangenen Jahr Asyl gewährt. Der US-Amerikaner lebt an einem geheimen Ort in Moskau.

Es ist ein heikler Seiltanz, den die ukrainische Führung derzeit versucht. Eine Gratwanderung in Kampfstiefeln. Als "Anti-Terror-Operation" bezeichnet die Übergangsregierung den militärischen Aufmarsch in der Ostukraine. Am zweiten Tag der Aktion wirkt der Einsatz aber mehr wie ein verzweifelter Versuch, Präsenz zu zeigen in einer Region, die nach und nach der Kontrolle Kiews entgleitet.

Es ist ein Einsatz mit Verlusten. Als ein ukrainischer Truppenverband Mittwoch Früh in die von pro-russischen Separatisten gehaltene Stadt Slawjansk einrückte, wurde er zunächst gestoppt. Dann wurde verhandelt. Nach einer Stunde fuhren mehrere gepanzerte Fahrzeuge mit russischen Fahnen durch die Stadt. Die Truppen waren übergelaufen. "Jeden Tag verliert die Ukraine ein Stückchen mehr die Kontrolle", so n-tv-Korrespondent Dirk Emmerich in Slawjansk zum KURIER.

Kämpfe in Mariupol

In der ostukrainischen Großstadt Mariupol sind Mittwochabend bei Auseinandersetzungen um einen Militärstützpunkt mindestens fünf Menschen verletzt worden. Etwa 500 zum Teil maskierte prorussische Aktivisten umstellten die Kaserne. Die Angreifer forderten die Soldaten demnach auf, ihnen alle Waffen auszuhändigen. Ein Einsatzfahrzeug soll in Flammen aufgegangen sein. Schüsse hätten auch zwei nahe Wohnungen getroffen. Die Anrainer flüchteten aus Angst vor austretendem Gas.

Daneben ist vor allem auch die Stadt Kramatorsk umstritten. Der Flugplatz der Stadt war bereits am Dienstag von ukrainischen Spezialkommandos zurückerobert worden. Am Mittwoch versuchten die ukrainischen Truppen in und um Kramatorsk Präsenz zu zeigen. Sieben Radpanzer rollten durch die Stadt. Immer wieder stießen sie dabei auf Straßenblockaden von Zivilisten. Immer wieder die selben Szenen: Soldaten, die Zivilisten von den Straßen drängen, um den Fahrzeugen den Weg frei zu machen. Immer wieder Gebrüll, Schüsse in die Luft. Schließlich wurden sie von pro-russischen Milizionären umstellt und festgesetzt. In Lugansk weiter östlich gerieten ukrainische Soldaten am Mittwoch in einen Hinterhalt. Zwei Soldaten wurden verschleppt. Der ukrainische Geheimdienst SBU nahm indes einen jungen Mann fest, der angeblich für den russischen Militärgeheimdienst GRU Sabotageakte geplant haben soll.

Nach einem Tag Anti-Terror-Aktion stellt sich also die Frage: Haben die ukrainischen Sicherheitskräfte überhaupt die Kapazität, durchzugreifen? Und sollten sie das tun, besteht nach wie vor das Risiko eines russischen Einmarschs. Laut ukrainischen und auch NATO-Angaben stehen auf der anderen Seite der Grenze bis zu 40.000 russische Soldaten.

Russland machte erneut die ukrainische Regierung für die Eskalation verantwortlich. In Telefonaten mit Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel und UN-Generalsekretär Ban Ki-moon kritisierte Russlands Präsident Wladimir Putin den Einsatz der ukrainischen Armee. Damit riskiere die ukrainische Führung einen Bürgerkrieg. Aus Sicht Kiews aber handelt es sich bei dem Aufstand um nichts anderes als einen russischen Einmarsch.

"Es ist Zeit, hart durchzugreifen", so ein an sich gemäßigter ukrainischer Journalist. Russland werde so weit gehen, wie man es lasse. Wenn jetzt nichts getan werde, werde man in drei Wochen die selbe Situation in Dnepropetrowsk haben. Und wenn dann nichts getan werde, werde sich alles in sechs Wochen in Kiew wiederholen. Es ist genau diese Stimmung, die sich auch unter ausgesprochen Pazifisten in der Ukraine breit macht.

Genf-Gespräche in Gefahr

Inmitten dieses Schlamassels ist der Donnerstag ein kleiner Hoffnungsschimmer. In Genf war ein erstes direktes Treffen zwischen einem Vertreter der ukrainischen Übergangsregierung und der russischen Führung geplant. Vorgesehen war ein Treffen der Außenminister Russlands, Sergej Lawrow, der Ukraine, Andrej Deschtschyzia und der USA, John Kerry, sowie der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton. Angesichts der Eskalation in der Ostukraine wurde bis zuletzt mit einer möglichen Absage des Treffens gerechnet. Schon der Inhalt der Gespräche ist umstritten. Während Russland anscheinend eine Reform der ukrainischen Verfassung debattieren will, wies das der ukrainische Botschafter bei der UNO kategorisch zurück. "Innere Angelegenheiten" werde man nicht besprechen.

Am Ausgang des Treffens wird hängen, ob EU und USA weitergehende Sanktionen gegen Russland beschließen. Im Gespräch und in Vorbereitung sind solche bereits.

Beschlossen ist dagegen bereits eine Verstärkung der NATO Truppen in den östlichen Bündnisländern. "Wir werden mehr Flugzeuge in der Luft haben, mehr Schiffe im Wasser, und wir werden auf dem Land eine erhöhte Bereitschaft haben", so NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen. Umgesetzt würden die Maßnahmen "unverzüglich".

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