Putin zelebriert Siegeskult und Stärke

Moskau zeigt, was es hat: 16.000 Soldaten, knapp 200 Panzer und Geschütze, 143 Kampfflugzeuge – die größte Militärparade im postkommunistischen Russland.
Viel Pathos bei der größten Militärparade, die es im postkommunistischen Russland je gab.

Russlands Luftwaffe hatte die Wolken weit vor Moskau zum Abregnen gezwungen, der Himmel war daher am Samstag strahlend blau. Blau steht für den Mantel der Gottesmutter, Russlands Schutzpatronin. Blau verhüllt war daher eigens zum Tag des Sieges auch das Lenin-Mausoleum aus rotem Granit, vor dem die Ehrentribünen aufgebaut waren, auf denen Kremlchef Putin und handverlesene Gäste der Militärparade beiwohnten. Die meisten Staatsgäste aus dem Westen blieben der Feier wegen Putins Ukraine-Politik fern. Mit 16.000 Soldaten, knapp 200 Panzern und Geschützen sowie 143 Kampfflugzeugen war sie die größte, die es im postkommunistischen Russland je gab.

Doch nicht nur deshalb hätten auch Lenin und Stalin an ihr ihre helle Freude gehabt. Der Moderator des Staatsfernsehens kommentierte das Geschehen mit dem gleichen Pathos wie einst der Kollege vom Sowinformbüro, das der Nation vor 70 Jahren die Siegesmeldung überbrachte. Und die schwere, offene Limousine, mit der Verteidigungsminister Sergei Schoygu das Karree der angetretenen und zu Salzsäulen erstarrten Soldaten abfuhr, beruht auf einem Modell aus den Fünfzigerjahren.

Zunächst geht es auch in Putins kurzer Ansprache viel um die Sowjetunion. Sie habe den entscheidenden Beitrag zum Sieg geleistet. Ausdrücklich dankt er auch den einstigen Verbündeten der Anti-Hitler-Koalition, den Partisanen im besetzten Europa und dem antifaschistischen Widerstand in Deutschland. Doch schnell kommt er zum hier und heute, wo "die Geschichte schon wieder an unsere Vernunft und unsere Wachsamkeit appelliert".

Dank an die Veteranen

Seine Stimme wird deutlich schärfer, als er den USA Versuche vorwirft, eine unipolare Welt und ein neues Blockdenken zu schaffen, wodurch Konflikte weltweit eskalierten. Die Grundprinzipien der internationalen Zusammenarbeit, die nach den Leiden des Krieges entstanden sind, würden in den vergangenen Jahrzehnten immer häufiger ignoriert. "All das untergräbt den Frieden." Einen Frieden, für den 27 Millionen Sowjetbürger mit dem eigenen Leben zahlten. Sichtlich bewegt dankt Putin den heute noch lebenden Kriegsteilnehmern. Als er eine Schweigeminute für die Kriegstoten verkündet, bebt seine Stimme leicht.

Es ist inzwischen 10:25 Uhr (Moskauer Zeit). Mit Nationalhymne und Salutschüssen beginnt die eigentliche Parade. Das Siegesbanner wird über den Roten Platz getragen. Rotarmisten hatten es auf dem Reichstag in Berlin aufgepflanzt. Zwei Mal. Das Foto, das später um die Welt ging, war eine Inszenierung. Das Banner eröffnete auch die Siegesparade im Juni 1945. Infanteristen, Minenleger und Aufklärer folgten ihm. Ihre Enkel und Urenkel defilierten gestern in den gleichen erdbraunen Uniformen wie damals an den Ehrentribünen vorbei.

Auf ihnen haben vor allem Veteranen, hohe Beamte und ausländische Staatsgäste Platz genommen. Dass Griechen-Premier Alexis Tsipras nicht gekommen ist, erfuhr die russische Öffentlichkeit im letzten Moment. Dafür ist als prominentester und wichtigster Gast Chinas Präsident XI Jinping mit Gattin da. Vor allem mit ihm und mit Kasachstans Präsident unterhält sich der Kremlchef. Viele Einheiten, die Moskau im November 1941, als die Wehrmacht teilweise schon die Vororte erreicht hatte, verteidigten, wurden in Kasachstan aufgestellt.

10:35 Jetzt kommen die jüngsten Teilnehmer: Kadettinnen mit Röcken, die leicht oberhalb des Knies enden, marschieren in Stechschritt light über den Roten Platz. Putin, der seit seiner Scheidung gern den Charmeur gibt, tuschelt mit seinem Verteidigungsminister.

Es folgen die Kontingente befreundeter Staaten. Neben den sechs Mitgliedern des prorussischen Verteidigungsbündnisses der UdSSR-Nachfolgegemeinschaft GUS auch Soldaten aus Aserbaidschan, China, Indien, die Mongolei und Serbien. Die Konfiguration eines Bündnisses, das die unipolare Weltordnung beendet?

Putin tuschelt ein letztes Mal mit Xi, dann hat er nur noch Augen und Ohren für die Technik, die sich mit lautem Dröhnen ankündigt. Erstmals wird der Panzer Armata der Öffentlichkeit vorgeführt: Russlands neue Wunderwaffe. Veteranen recken das Kinn noch ein bisschen höher, die alten müden Augen leuchten. Und noch immer intoniert das Orchester die Lieder des Krieges. Die Blenden zwischen den einzelnen Titeln sind so perfekt gesetzt, dass sie wie ein Gesamtkunstwerk wirken.

Putin marschiert mit

Am Nachmittag überrascht Putin dann alle: Er führt persönlich den Marsch von rund 250.000 Menschen im Gedenken an die Kriegsopfer durch Moskau an. Mit einem Porträt seines Vaters Wladimir, der im Zweiten Weltkrieg gegen die deutschen Truppen kämpfte, stellt er sich Putin an die Spitze des Zuges. Der 62-Jährige bezeichnet den Marsch als eine Würdigung der Millionen russischen Kriegstoten, aber auch ein Zeichen der Stärke Russlands.

Volksfest im Park

Auf den Volksfesten in den Parks von Moskau erschallen wieder Kriegslieder. Sie hätten ihm mehr bedeutet, als die hundert Gramm Wodka, die es im Krieg vor jedem Angriff gab, behauptet ein Veteran mit ordengeschmücktem Jackett. Jedes Jahr geht er zum Ball des Sieges im Park des Moskauer Eremitage-Theaters. Feldköche in historischen Uniformen schöpfen aus historischen Gulaschkanonen, womit die Frontkämpfer einst verköstigt wurden. Danach tanzt man Walzer. Die einstigen Soldaten – viele in Ausgehuniformen von 1945 – machen dabei eine bessere Figur als ihre manchmal 60 Jahren jüngeren Tanzdamen. Und auf dem Ball haben die Veteranen auch das, was ihnen im Alltag oft fehlt: Zuhörer für Erlebnisse, die sie immer wieder erzählen müssen, um auch mehr als 70 Jahre danach damit fertig zu werden.

Das Ende des Weltkrieges bedeutete in weiten Teilen der Westukraine keinesfalls das Ende des Krieges. Noch bis Mitte der 50er-Jahre kämpften dort geschätzte 30.000 Partisanen der Ukrainischen-Aufständischen-Armee (UPA) gegen die Sowjetarmee und für einen von der UDSSR unabhängigen Staat. Es war ein Krieg, der bis heute ausstrahlt und Identitäten in der Ukraine prägt. Das schwarz-rote Banner der UPA ist neben dem offiziellen Dreizack-Wappen heute ein viel gebrauchtes patriotisches Symbol für den absoluten Unwillen, sich Moskau zu unterwerfen. Die wenigen noch lebenden UPA-Veteranen zeigen sich Jahr für Jahr – und auch heuer wieder – mit Stolz in ihren Uniformen. Mit den Veteranen der Roten Armee aber stehen sich Jahr für Jahr auch wieder ehemalige Todfeinde gegenüber.

Massive Kriegsverbrechen

Seit 1942 hatte die UPA zeitweise mit Nazideutschland kollaboriert, sich später gegen die Nazis gewandt, zugleich auch die polnische Heimatarmee bekämpft, sich dabei massiver Kriegsverbrechen schuldig gemacht, um später von den Sowjets zerrieben zu werden. In ihren Anfängen war die UPA eine nationalistische, zum Teil faschistische Gruppe; später, mit dem Vorrücken der Roten Armee, aber wandelte sie sich vor allem in ein Sammelbecken für all jene, die keinesfalls unter sowjetische Herrschaft geraten wollten: Menschewiki kämpften da ebenso wie Nationalisten; es waren Ukrainer, Armenier, Georgier, Tataren, Usbeken und auch ukrainische Juden, die zu den Waffen griffen.

Bis 1956 brauchte die Rote Armee, um die UPA endgültig zu besiegen – mit weitreichenden Folgen für das schon in den Zeiten der bolschewistischen Revolution und in den 30er-Jahren aus Sicht Moskaus notorisch aufmüpfige Land. Schon der Gebrauch der ukrainischen Sprache galt als suspekt. Die sowjetische Geschichtsschreibung setzte zugleich auf die rückhaltlose Verteufelung jeglicher Äußerungen einer ukrainischen Identität als „faschistisch“ bei zugleicher Selbstglorifizierung.

Diese mittlerweile völlig ideologiefreie Sicht auf die sowjetische Geschichte ist maßgeblicher Mobilisierungsmotor für pro-russische Milizen in der Ostukraine. Ein entsprechender Drahtseilakt war das Gedenken an den Weltkrieg daher für den ukrainischen Präsidenten Poroschenko, der erstmals Veteranen der Roten Armee und der UPA sowie auch des aktuellen Krieges im Osten ins Parlament lud – um dem Ende eines Krieges zu gedenken, der sich aus Sicht Kiew heute zu wiederholen droht.

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