Haller: "Es ist die Rache an der heilen Welt"

Haller fürchtet, „dass wir mit solchen Taten einige Zeit leben werden müssen.“
Amok und Terror. Psychiater Reinhard Haller sieht ein übergeordnetes Motiv bei den Tätern.

22. Mai Ein 27-jähriger Vorarlberger mit rechtsextremer Vergangenheit schießt nach einem Beziehungsstreit mit einem Kalaschnikow-Nachbau auf die Besucher eines Rockerfestes in Nenzing. Zwei Menschen sterben im Kugelhagel. Der Täter richtet sich selbst.

Vergangener Freitag Ein 18-jähriger Schüler mit deutscher und iranischer Staatsbürgerschaft, der gemobbt wurde, läuft mit einer Glock in München Amok. Es gibt neun Todesopfer. Mit dem letzten von 57 Schüssen aus seiner Waffe richtet sich der junge Mann selbst.

Sonntagabend Ein 27-jähriger Syrer, der vor der Abschiebung nach Bulgarien stand, sprengt sich am Rand eines Musikfestivals im bayerischen Ansbach in die Luft. Er soll sich in einem Video zum IS bekannt haben. Der Asylwerber stirbt. 15 Menschen werden verletzt, vier zum Teil schwer.

Labile Persönlichkeiten

Der Hintergrund dieser drei Männer könnte nicht unterschiedlicher sein. Mit ihrem Suizid haben sie es verunmöglicht, sie nach ihren Motiven zu befragen. Alle waren in der Vergangenheit in Behandlung, labile Persönlichkeiten, die auszuckten und andere in den Tod rissen. Die Serie solcher Wahnsinnstaten scheint nicht abzureißen.

Für den erfahrenen Gerichtspsychiater Reinhard Haller steht fest, dass eine Attacke bis zu einem gewissen Maße immer eine weitere mitbefeuert: "Ich fürchte, dass wir mit solchen Taten einige Zeit leben werden müssen. Sie haben immer einen gewissen Nachahmungseffekt. Aber ich sehe das globaler. Es scheint so zu sein, dass Menschen nicht mehr bereit sind, gewisse Benachteiligungen, Kränkungen, Außenseitertum, soziale Probleme zu ertragen und sich an der scheinbar kalten, verständnislosen Welt rächen wollen."

Haller sieht darin ein übergeordnetes Motiv, auch wenn die Grenzen zwischen Terror- und Amoktat zum Teil verschwimmen: "Dass jemand aus einer Kränkung zu diesem Fanal schreitet, zieht sich irgendwie durch das Kriminalitätsmuster hindurch. Wir haben das bei den Amoktaten; wir haben das bei den Terroranschlägen, aber wir haben es auch bei Familientragödien, dass jetzt sofort diese maximale Rache an der scheinbar heilen Welt erfolgt."

Parallele zu Nizza

Dass die Welt in diesen Tagen alles andere als heil ist, sieht auch Haller so. "Natürlich ist sie das nicht, aber im Erleben eines Betroffenen, gerade wenn er auch noch depressiv ist, ist es so. Dass der Täter in Nizza ausgerechnet eine Promenade aussucht, wo die Leute feiern, Urlaub machen, wo die Schönen und Reichen zu Hause sind, kann nur aus der Dynamik heraus sein: Der Welt werde ich es zeigen."

In dieses Muster passt für Haller auch der Todesflug des Germanwings-Piloten im März 2015: Er hat 149 Menschen, die vom Urlaub nach Hause gereist sind, mit in den Tod gerissen. Da kann nur die Dynamik dahinter stehen: Mir geht es schlecht und denen geht es gut." Die Rache an der heilen Welt, sei den Tätern wichtiger als ihr Leben. Und: "Die Opfer sind Symbol für die Welt, die sie hassen."

Der Amokläufer von München hat sich sowohl von dem Massaker des Rechtsextremisten Anders Behring Breivik inspirieren lassen, der vor fünf Jahren in Norwegen 77 Menschen tötete, als auch von dem Schulamoklauf in Winnenden. Den Ort, in dem ein 17-Jähriger 2009 fünfzehn Menschen getötet hat, besuchte der Amokläufer vom Freitag bereits vor einem Jahr.

Anders als sein mögliches Vorbild schlug Ali David S. allerdings in München nicht an seiner Schule zu, sondern in einem Fast-Food-Restaurant. "Bei Schulattentätern ist die Schule oft der Ort, wo sie die meisten Kränkungen erfahren haben. Beim Münchner Attentäter dürften ähnliche Überlegungen der Fall gewesen sein. Warum er gerade zum McDonald’s gefahren ist, wird man nicht mehr erfahren. Aber das hatte für ihn sicher eine besondere Bedeutung", vermutet Haller.

"Enorme Macht"

Die Täter sähen in ihren Amokläufen die Möglichkeit, einmal der ganzen Welt ihren Schmerz mitzuteilen. "Nach dem Motto: Einmal ganz wichtig sein. Das gelingt ihnen ja dann auch. Die sozialen Medien sind dafür die idealen Mittel. Wenn berichtet wird, dass München in Angst und Schrecken versetzt und geradezu neurotisiert wurde, das gibt diesen Tätern enorme Macht. Das ist für solche gekränkten Menschen Öl auf die Wunden."

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