"Was passiert mit den entführten Mädchen und Frauen?"
Wenn Sandos Solamen von den Frauen und Mädchen erzählt, die in einem Dorf nahe Shingal von Kämpfern des "Islamischen Staates" (IS) in Käfigen gefangen und auf einem Basar verkauft wurden, wird ihre Stimme brüchig und verstummt. Sie kann ihre Tränen nicht unterdrücken, Sohn Dimuzi sitzt neben ihr und reicht ein Taschentuch. "Zehn Dollar für ein Mädchen, manchmal auch weniger. Die hübschesten wurden an die Oberhäupter und Generäle der IS verkauft", sagt die zierliche Frau mit matter Stimmer. Sie will diese Geschichten erzählen, obwohl es ihr schwer fällt.
Verfolgte Minderheit
Jesiden sind eine Minderheit unter den Kurden. Sie verstehen sich als eine der ältesten monotheistischen Religionen der Menschheit, kennen keinen Teufel und keine Hölle. Im Zentrum ihres Glaubens steht der Engel Melek Taus, ein Pfau. Er erschuf in Gottes Auftrag die Welt sowie Adam und Eva. Die meisten Jesiden stammen aus dem Irak, Syrien, Iran oder der Türkei. Ihre Anzahl ist nicht genau bekannt. Experten schätzen sie auf 700.000 bis 800.000 weltweit. Solamen berichtet von 100 jesidischen Familien in Wien und zirka 500 in ganz Österreich. Die IS-Kämpfer verfolgen die Jesiden, weil sie in ihren Augen Ungläubige sind. "Sie sagen, wir haben kein Buch wie den Koran – das stimmt zwar, aber wir glauben auch an Gott." Es ist der 74. Versuch, die Jesiden auszulöschen, setzt Solamen fort. Sie berichtet von IS-Truppen, die in Dörfer einmarschieren und die Menschen vor ein Ultimatum stellen: Entweder sie konvertieren zum Islam oder sie müssen sterben.
Schicksal
Was Sandos Solamen derzeit besonders beschäftigt, ist das Schicksal der Frauen und Mädchen: "Was passiert mit ihnen, wenn sie freikommen? Sie wurden von der IS festgehalten, das heißt für die Angehörigen, sie wurden vergewaltigt und haben somit Schande über die Familie gebracht. Sie gehören nicht mehr dazu, weil sie kein Jeside mehr heiraten würde – obwohl sie nichts dafür können. Das ist furchtbar."
Solamen schüttelt den Kopf. Es ist ihre eigene Religion, die sie an diesem Punkt nicht versteht. "Es ist eine Religion, in die man nicht rein und nicht raus kann", ergänzt ihr Sohn. Damit meint er, dass Jesiden nur untereinander heiraten dürfen - es darf auch niemand zum Jesidentum konvertieren. Beziehungen mit Menschen anderer Glaubensrichtungen sind nicht erlaubt. Solamen will dies ändern, ihre Glaubensrichtung revolutionieren – wie sie stolz sagt. "Es wäre auch für unsere Kultur besser, wenn wir etwas offener wären. Aber leider sind viele unserer Leute sehr streng." Für ihre Pläne hat sie mit Bābā Schaich (Vater Scheich, Anm.) Kontakt aufgenommen. Er ist das Oberhaupt der Jesiden und lebt im Irak. "Ich habe ihn gefragt, wieso wir es den Frauen - auch den verschleppten, die kein Jeside mehr heiraten würde - nicht zumindest ermöglichen, Männer aus anderen Religionen zu heiraten? So müssen sie ihr Leben alleine verbringen, außerhalb der jesidischen Gesellschaft." Doch bei diesem Thema, so Solamen, macht das Oberhaupt dicht. Es ist ein Tabuthema, doch sie will nicht aufgeben.
Für die Flüchtlinge fordert sie humanitäre Hilfe und bittet um deren Aufnahme in Europa und in Österreich. "Es wurden zwar Lebensmittel per Helikopter in die Berge geflogen, doch diese sind schnell verbraucht. In wenigen Wochen wird es dort sehr kalt, die Menschen haben keine Unterkünfte. Sie müssen weggebracht werden." Dazu kommt, dass viele Hilfsgüter und Spenden in den jeweiligen Dörfern im Irak nicht verteilt wurden. "Immer wieder hören wir, dass nichts angekommen ist. Es wurden Millionen gespendet, aber nichts kam an. Wie kann das sein?" Soleman fordert eine kontrollierte Vergabe der Spenden etwa unter der Aufsicht von UN-Mitarbeitern.
Petition
Unterstützung bekamen sie auch von der Türkischen Kulturgemeinde Österreich. Birol Kilic, deren Leiter, appellierte an seine Glaubensgemeinschaft: "Ich rufe alle Muslime auf, sich von der Terrorgruppe IS zu distanzieren und Jugendliche aufzuklären. Denn die haben mit dem Islam nichts zu tun. Vor allem die Menschen aus der Türkei müssen aufstehen und sagen, dass hier ein schrecklicher Genozid passiert." Trotz der schrecklichen Taten, die IS-Terroristen im Namen Allahs verüben, legt Solamen Wert auf ein differenziertes Bild von Muslime: "Man darf sie nicht alle in einen Topf werfen. Wir haben viele muslimische Freunde und Bekannte. Das, was die IS macht, das ist nicht der wahre Islam."
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