Istanbul: Deutsche waren nicht gezielt im Visier

Trauer am Tag danach
Elf Tote, die meisten Deutsche. Razzien im ganzen Land, ein Verdächtiger wurde gefasst.

Nach dem Bombenanschlag im Zentrum von Istanbul hat die türkische Polizei einen Verdächtigen gefasst. Er wurde schon am Dienstagabend festgenommen, erklärte der türkische Innenminister Efkan Ala bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem deutschen Innenminister Thomas de Maiziere in Istanbul. Die Ermittlungen liefen auf höchster Ebene und in verschiedene Richtungen.

Istanbul: Deutsche waren nicht gezielt im Visier
epa05099764 German Interior Minister Thomas de Maiziere (L) and his Turkish counterpart Efkan Ala (R) attend a press conference in Istanbul, Turkey, 13 January 2016. German Chancellor Angela Merkel described 12 January 2016's suicide attack in Istanbul in which 10 people died, eight of them Germans, as a 'murderous act.' The Turkish government blamed Islamic State for the suicide bombing in the tourist heart of Istanbul in which eight German citizens were among the dead and nine were injured. EPA/DENIZ TOPRAK
Nach bisheriger Einschätzung war der Anschlag nicht gezielt gegen Deutsche gerichtet, so de Maizière. Die Türkei verdächtigt als Drahtzieher die Terrormiliz IS und verschärfte erneut ihr Vorgehen. Die NachrichtenagenturDHA meldete zuvor am Mittwoch, im zentralanatolischen Konya seien vier mutmaßliche IS-Angehörige verhaftet worden. Ihnen werde vorgeworfen, der Terrormiliz Kämpfer zugeführt und diesen beim Grenzübertritt nach Syrien geholfen zu haben.

Auch bei einer Polizeioperation gegen den IS im südtürkischen Antalya seien drei verdächtige russische Staatsbürger festgenommen worden, meldete DHA. Sicherheitskräfte hätten bei einer Durchsuchung Dokumente und Datenträger beschlagnahmt. Antalya ist eines der beliebtesten Urlaubsziele. Im westtürkischen Izmir wurden den Angaben zufolge sechs Verdächtige festgenommen und Waffen beschlagnahmt.

Ob diese Verhaftungen und Festnahmen in direktem Zusammenhang mit dem Anschlag von Istanbul standen, blieb unklar. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete 68 Festnahmen bei Operationen gegen den IS. Davon fand der Großteil aber vor dem Anschlag von Istanbul statt. Innenminister Ala sprach von 220 IS-Verdächtigen, die in der Woche vor dem Istanbul-Anschlag festgenommen worden seien.

Elf Todesopfer

Nach Angaben des türkischen Innenministers Efkan Ala sind bei dem Anschlag nach neuer Bilanz insgesamt elf Menschen ums Leben gekommen, darunter neun Deutsche. Die anderen beiden Toten stammten aus Norwegen und Peru. Davor war von zehn Toten die Rede gewesen.

Außerdem gebe es noch zwei deutsche Schwerverletzte, sagte Ala am Mittwoch in Istanbul nach einem Treffen mit seinem deutschen Amtskollegen Thomas de Maiziere, der am Mittwoch nach Istanbul gereist war.

Selbstmordattentäter aus Saudi-Arabien

Der Attentäter war Syrer, 28 Jahre alt, in Saudi-Arabien geboren. Er wurde am 5. Jänner als Flüchtling bei der türkischen Einwanderungsbehörde registriert. Er stand auf keiner Liste von Terrorverdächtigen. Ein Verdächtiger wurde Dienstag abend festgenommen. In Antalya wurden zudem drei russische Dschihadisten verhaftet. Der türkische Geheimdienst MIT hatte mit einem Anschlag gerechnet und die Polizei gewarnt.

Geheimdienst hatte gewarnt

Die Zeitung Hürriyet berichtet unterdessen, dass der türkische Geheimdienst MIT vor Terrorangriffen unter anderem auf Touristen im Land gewarnt hatte. Die Hinweise vom 17. Dezember und 4. Jänner seien an Sicherheitsbehörden im ganzen Land gegangen. In den Warnungen habe es geheißen, Selbstmordattentäter des IS seien ins Land eingedrungen.

Sie könnten nach Istanbul oder Ankara weitergereist sein oder auch über die Türkei in andere europäische Länder ziehen. In der Warnung heiße es, der IS plane Selbstmordanschläge "auf in der Türkei lebende Nichtmuslime, Ausländer, Tourismusregionen, von ausländischen Besuchern stark frequentierte Orte oder auf Botschaften und Konsulate der entsprechenden Länder und auf NATO-Einrichtungen im Land".

Mitgefühl von türkischen Zeitungen

Zwei türkische Zeitungen reagieren auf die Anschläge, bei denen vor allem deutsche Touristen getötet worden waren, mit deutschen Schlagzeilen (mehr dazu unten in den Pressestimmen).

Istanbul: Deutsche waren nicht gezielt im Visier
Cover Meydan
In Berlin wehten unterdessen die Flaggen auf halbmast, der deutsche Bundestag gedachte der Opfer. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU )verurteilte den "brutalen Selbstmordanschlag eines fanatischen Attentäters und rief dazu auf, sich von solchen Anschlägen nicht verunsichern zu lassen. Die Attentäter wollten "Angst in die Metropolen" tragen. "Ihr werden wir uns nicht ausliefern, von wem auch immer diese Gefahr und Absicht ausgeht", fügte er hinzu.

Zumindest eines der Todesopfer von Istanbul stammt aus Berlin. Zwei weitere Berliner wurden verletzt.

Zwei türkische Zeitungen haben ihrem Mitgefühl mit den deutschen Opfern Ausdruck verliehen, indem sie die Schlagzeilen auf Deutsch druckten. "Im Herzen bei Euch", stand am Mittwoch auf der Titelseite der Zeitung Habertürk.

Die Zeitung Meydan erschien mit einer ebenfalls auf Deutsch gehaltenen Schlagzeile. Dort stand in weißen Buchstaben auf schwarzem Grund: "Wir trauern".

De Telegraaf (Den Haag):
"Der 'Islamische Staat' (IS) hatte im zurückliegenden Jahr bereits zwei Anschläge in der Türkei verübt, mit 34 Toten in Suruc nahe der Grenze zu Syrien sowie in Ankara mit rund 100 Toten. In beiden Fällen waren vor allem linke Kurden die Opfer. Nun hat der IS zum ersten Mal in der Türkei einen Anschlag auf Touristen ausgeführt. Auf der Liste der terroristischen Organisationen stand der IS in der Türkei schon länger. Jedoch wurde dem Land oft vorgeworfen, zu wenig gegen diese Terrororganisation zu tun. Das Vorgehen gegen die separatistische kurdische PKK, die selbst gegen den IS kämpft, hatte für Ankara stets Priorität. Doch nun wird die Türkei zweifellos stärker motiviert sein, den IS zu bekämpfen."

Neue Zürcher Zeitung:
"Einmal mehr muss sich die türkische Regierung fragen lassen, was sie eigentlich gegen die Bedrohung unternimmt, die vonseiten türkischer IS-Rückkehrer und IS-Sympathisanten ausgeht. Auch sollte sie überdenken, ob sie im 'Krieg gegen den Terror' nicht die falschen Prioritäten setzt. Viel zu lange unterstützte (Präsident) Erdogan den Kampf jihadistischer Freischärler in Syrien, mehr als einmal machte er deutlich, dass er nicht den IS (Islamischen Staat), sondern die (verbotene Kurdische Arbeiterpartei) PKK und ihren syrischen Ableger als grösste Gefahr einschätzt. Hat er begriffen, welche Folgen das für die Sicherheit im eigenen Land hat, oder nimmt er den Terroranschlag von Istanbul wirklich nur als Schicksalsschlag wahr? Würde die Regierung nur halb so viel Kräfte gegen den IS aufbringen, wie sie mit Gewalt im kurdischen Südosten agiert, hätte der IS nicht ein so leichtes Spiel."

El Pais (Madrid):
"Der blutige Anschlag in Istanbul zeigt erneut, dass jeder westliche Bürger - unabhängig von der Nationalität, vom Beruf und vom Aufenthaltsort - ein direktes Ziel des jihadistischen Fanatismus ist. Die Türkei spielt im Kampf gegen den Terror eine Schlüsselrolle und benötigt alle erdenkliche Hilfe. Der 'Islamische Staat' muss die eindeutige Botschaft erhalten, dass mit jedem Anschlag die Entschlossenheit wächst, die Terrormiliz zu bekämpfen. Die Bluttat von Istanbul sollte zur Folge haben, dass die internationale Zusammenarbeit mit Ankara gestärkt wird. Außerdem muss in bestimmten Gegenden, in denen der Terrorismus besonders verbreitet ist, der Schutz der Bürger verbessert werden."

Duma (Sofia):
"Es macht sich ein neuer, gefährlicher Trend zur Eskalation der Terroranschläge und der Gewalt bemerkbar, die mit der Immigrationskrise verbunden sind. (...) Der Attentäter ist ein Syrer, die Organisatoren gehören dem 'Islamischen Staat' an, der Tatort ist Istanbul, getroffen aber ist eine deutsche Touristengruppe. Ist diese Reihe von Zufällen wirklich zufällig? Ist der Gedanke dahinter nicht vielmehr, das Chaos zu vertiefen, indem man die Nerven der deutschen Gesellschaft und auch von ganz Europa überspannt?"

Magyar Nemzet (Budapest):
"Die Türkei wird im Inneren wie im Äußeren vom Terror bedroht. Der Anschlag von Istanbul (...) ist die perfekte Veranschaulichung der türkischen Realität. Die verhärtete, auf Nabelschau fixierte Haltung Europas wird wiederum dadurch versinnbildlicht, wie viel weniger Medienrummel und 'Bestürzung' dem übrigens im europäischen Teil von Istanbul verübten Terroranschlag zuteilwerden als der Tragödie von Paris. (...) Dabei wäre es angebracht, sich zumindest darüber Sorgen zu machen, dass die Türkei in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht in der Lage sein wird, Europa in der Flüchtlingsfrage zu helfen."

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