"Sie suchen ihre Zukunft woanders"

Vertreter aus Politik und Zivilgesellschaft diskutieren auf Augenhöhe.
Abwanderung der Jugend in den Balkanländern. NGOs und Politiker debattierten in Wien.

Vier Kinder hat Mohammed Arifi. Eine Tochter, die in Wien lebt, hat der Kosovare gerade besucht: "Sie hat einen Job, eine Familie – ein schönes Leben." Die drei anderen aber, die seien bei ihm in Prishtina geblieben. Sie alle sind arbeitslos und haben keine Aussichten auf eine Wohnung.

Es war einer der bewegendsten Momente Mittwochabend in der alten Ankerbrot-Fabrik in Favoriten, als Arifi die aktuelle Problematik der Balkanländer in die Geschichte seiner Familie packte. Der Rom, der selbst ein Hilfsprojekt für Roma und andere Minderheiten im Kosovo leitet, formulierte eine persönliche Schlussfolgerung, die aber für Zehntausende junge Menschen am Balkan gilt: "Ich kann meinen Kindern nicht erklären, warum sie nicht in die EU auswandern sollen, um dort ein besseres Leben zu haben."

Am Rande des Westbalkan-Gipfels hatte die Erste-Stiftung gemeinsam mit Ebert-Stiftung und Renner Institut zum "Forum der Zivilgesellschaft" eingeladen. Bürgerrechtler, Hilfsorganisationen und Medienvertreter aus der Region trafen auf Spitzenpolitiker der Länder.

Und die wurden in einer, wenn auch zu kurzen, Debatte mit offener Kritik und unangenehmen Wahrheiten konfrontiert. Korruption und Vetternwirtschaft, mangelnde Demokratie und fehlende Chancen für Jugendliche prangerten die NGOs an. Ein "hungriger Wolf, der alles in- und ausländische Geld verschlingt", nannte etwa eine Vertreterin aus Bosnien-Herzegowina ihre Regierung. Die jungen Menschen ihres Landes, klagte eine Mazedonierin, hätten keine Zeit auf Reformen zu warten, die nicht und nicht kämen:"Sie gehen einfach und suchen ihre Zukunft woanders."

Realistische Politiker

Die Politiker, u. a. Serbiens Premier Aleksandar Vucic und sein albanischer Kollege Edi Rama, reagierten sachlich und mit ungeschöntem Realismus. "Wir werden diese Abwanderung der gut Ausgebildeten nicht aufhalten können", gab sich Vucic pragmatisch: "Leute gehen immer dorthin, wo sie besser leben." Ähnlich nüchtern Rama:"Wir können die Erwartungen der Menschen nicht erfüllen, wir sind ja noch nicht einmal auf halbem Weg nach Europa."

Doch es sind nicht nur die Jobs, die den jungen auf diesem halben Weg fehlen. Es gebe noch immer viel zu viel Angst, die eigene Meinung zu sagen, erzählt eine mazedonische Studentenaktivistin. Und jene, die es wagen, würden ignoriert oder sogar bedroht: "Auch wenn ich bleiben und kämpfen will, ich kann jeden verstehen, der geht."

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