Spalten sich jetzt Schotten und Nordiren ab?

Ein Schotte in London
In Schottland ist ein neues Unabhängigkeitsvotum denkbar, in Nordirland wird ein Wiederaufflammen der Spannungen befürchtet.

Der Brexit katapultiert nicht nur Großbritannien aus der EU, er dürfte auch die Fliehkräfte innerhalb des Vereinigten Königreichs verstärken. Denn während Engländer und Waliser mehrheitlich für eine Zukunft jenseits der EU votierten, stimmten Schotten und Nordiren für den Verbleib in der Gemeinschaft.

Sowohl Schottland als auch Nordirland profitieren stark von EU-Geldern. Ausschlaggebend für den Ausgang des Referendums waren jedoch die Wähler in England, die 84 Prozent der Stimmberechtigten im Vereinigten Königreich stellen.

Eigentlich haben die Schotten gerade erst abgestimmt

Die Regierungschefin von Schottland, Nicola Sturgeon, deutete unmittelbar nach Bekanntgabe des Ergebnisses eine neue Unabhängigkeitsabstimmung an. In Nordirland sieht sich die Nationalistenpartei Sinn Fein in ihren Bestrebungen nach einer Vereinigung mit der Republik Irland gestärkt. Laut BBC votierten 62 Prozent der Wähler in Schottland und 55,8 Prozent der Stimmberechtigten in Nordirland für den Verbleib in der EU. In Wales stimmten 52,5 Prozent der Wähler für den Brexit, in England sogar 53,4 Prozent.

Eigentlich haben die Schotten gerade erst eine Abstimmung über die Unabhängigkeit hinter sich gebracht: 55 Prozent der Wähler votierten 2014 gegen die Abspaltung vom Königreich. Seither hat die regierende Schottische Nationalpartei (SNP) allerdings an Zustimmung gewonnen. Schon vor der Brexit-Abstimmung brachte die Erste Ministerin Sturgeon ein neues Unabhängigkeitsreferendum ins Gespräch, falls sich Großbritannien gegen den Willen einer Mehrheit der Schotten für den Austritt aus der EU entscheiden sollte. Jetzt bekräftigte sie ihren Kurs: Die Abstimmung "macht deutlich, dass die Menschen in Schottland ihre Zukunft in der EU sehen", sagte sie.

Alle fünf Parteien im Parlament in Edinburgh hatten für den Verbleib in der EU geworben. Die Sympathie vieler Schotten für Europa hat unterschiedliche Gründe: Einerseits basiert ihre Wirtschaft auf dem Export, andererseits tendieren die Schotten ohnehin weit stärker zur Wahl der Labour Party, deren Chef Jeremy Corbyn für den Verbleib in der EU plädierte. Viele schätzen den Schutz, den sie dank des EU-Arbeitsrechts und anderer europäischer Regelungen genießen. "Die meisten Schotten glauben an einen starken Staat und lehnen die Privatisierungspolitik der Regierung in London ab", sagt der Geschichtsprofessor Tom Devine von der Universität in Edinburgh.

Auch die Zuwanderung, eines der Hauptargumente der Brexit-Befürworter, verbreitete in Schottland weit weniger Schrecken als in England: Während viele Engländer die zahlreichen Immigranten aus der EU eher als Konkurrenten um Arbeit und Belastung der Sozialsysteme betrachten, ist Schottland wegen seiner alternden Bevölkerung in ländlichen Regionen auf die Zuzügler angewiesen.

Finanzielle Risiken

Eine Unabhängigkeit würde für Schottland allerdings auch Risiken bergen - vor allem finanziell, denn die Region ist von der Ölförderung abhängig. Dementsprechend hart trifft sie derzeit der Ölpreisverfall. "Die Schotten bremst bei ihren Bemühungen um einen Abschied von Großbritannien nur eine Sache, und das ist die finanzielle Abhängigkeit vom Haushalt in London", sagt Joachim Fritz-Vannahme, der Direktor des Programms "Europas Zukunft" bei der Bertelsmann-Stiftung.

Auch in Nordirland beflügelt die Brexit-Debatte alte Abspaltungsfantasien von Großbritannien - und zugleich die Furcht vor einem Wiederaufflammen des Konfliktes zwischen Katholiken und Protestanten. Die britische Regierung habe nach dem Brexit-Entscheid die demokratische Pflicht, ein Referendum über eine Vereinigung Nordirlands mit Irland anzusetzen, sagte der stellvertretende Erste Minister Nordirlands, Martin McGuinness, am Freitag. Die Regierung in London habe kein demokratisches Mandat mehr, Nordirland in Verhandlungen mit der EU zu vertreten.

Der Politiker gehört der Partei Sinn Fein an, die hauptsächlich von katholischen Nationalisten unterstützt wird und Nordirland wieder mit Irland vereinen möchte. Der Brexit mache eine Abstimmung über eine Abspaltung Nordirlands vom Königreich noch dringlicher, erklärte Sinn Fein unmittelbar nach der Entscheidung am Freitag.

Die Mehrheit der Bevölkerung in Nordirland stellen jedoch Protestanten, die Teil Großbritanniens bleiben wollen. Die Erste Ministerin Nordirlands, Arlene Foster, wies McGuinness' Forderung nach einem Referendum umgehend zurück. "Und selbst wenn es eine Volksabstimmung gäbe, ist es unmöglich, dass sie zugunsten eines vereinten Irland ausginge", sagte die Chefin der pro-britischen Demokratischen Unionistenpartei dem Radio Ulster.

Pro-irische Katholiken und pro-britische Protestanten hatten sich 30 Jahre lang einen Bürgerkrieg geliefert, der mindestens 3.600 Menschen das Leben kostete und erst 1998 mit dem Abschluss des Karfreitags-Abkommens endete.

Warnung vor Wiederaufflammen der Gewalt

Die beiden früheren britischen Premierminister Tony Blair und John Major warnten kürzlich bei einem Besuch in der Provinz vor einem Wiederaufflammen der Gewalt im Fall eines Brexits. Die EU, die Reisefreiheit und der freie Warenverkehr auf der Insel seien ein wichtiger Faktor gewesen, um das Karfreitags-Abkommen schmieden zu können, sagte Blair. Ein Austritt aus der EU aber würde nach Aussage des britischen Finanzministers George Osborne unausweichlich Grenzkontrollen zwischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland nach sich ziehen. Dies könnte der nordirischen Wirtschaft schaden, die gut ein Drittel ihrer Güter in den Nachbarstaat ausführt. Außerdem sei Nordirland abhängig von den EU-Beihilfen für die Landwirtschaft.

Mit seinen drei Millionen Einwohnern ist Wales die ärmste Region Großbritanniens und traditionell eine Hochburg der Labour Party. Ebenso wie Nordirland profitiert es von EU-Geldern in Milliardenhöhe, dennoch entschieden sich die Waliser mehrheitlich für den Ausstieg aus der EU. Sie ignorierten damit die Empfehlung ihres Ersten Ministers, Carwyn Jones, der für den Verbleib in der EU geworben hatte. Unternehmen würden die Region verlassen, wenn Großbritannien den Zugang zum EU-Binnenmarkt verliere, warnte der Regierungschef im Independent.

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