Bosnien: Stille Verzweiflung, leiser Protest

Rosen für die Sicherheitskräfte: Die Proteste gegen Korruption und soziale Missstände in Sarajewo laufen heute friedlich ab
Lokalaugenschein in einem Land, das 20 Jahre nach Friedensschluss seine Identität sucht.

Seit Tagen gruppieren sich etwa zwei Dutzend Männer vor dem Nationaltheater in Sarajewo. Sie sind Leidgenossen, jedem von ihnen schulden die Dienstgeber seit Monaten die Löhne. Später marschieren die Geprellten vor den Amtssitz des Staatspräsidenten, wo sie mit anderen Demonstranten zum Kampf gegen die Korruption und Misswirtschaft aufrufen. Die vorbeieilenden Passanten lassen die Protestierer kalt. Die Handvoll Demonstranten ist das Einzige, was vom sogenannten Bosnischen Frühling übrig geblieben ist.

Bosnien: Stille Verzweiflung, leiser Protest
Brücke in Mostar
Im Februar waren große Sozialproteste ausgebrochen, in manchen Städten brannten Amtsgebäude. Das einzige Resultat: In Tuzla wurden einige Politiker ausgetauscht. Politologen orten den Grund für das Totlaufen in mangelnder Solidarität. Die Proteste wurden nur von den muslimischen Bosniaken getragen, weder die Kroaten noch die Serben machten mit. Die Integration der drei Volksgruppen zu einem Staatsvolk schreitet nicht wirklich voran. Ein Wir-Gefühl gibt es nicht. Die Menschen in Bosnien-Herzegowina identifizieren sich nur mit ihrer Ethnie, die automatisch auch die religiöse Zugehörigkeit bedeutet. Die Bosniaken sind Muslime, die Serben die Orthodoxen und die Kroaten die Katholiken. Laut Verfassung hat jede Gruppe das Vetorecht, was zum politischen Stillstand führt. Die überfälligen Staatsreformen können nicht durchgeführt werden.

"Keine andere Heimat"

Bosnien: Stille Verzweiflung, leiser Protest
A woman waits for food in front of a soup kitchen in Mostar in this January 30, 2013 file photo. The front line in Mostar during the Bosnian war ran north-south, along a road parallel with the emerald waters of the Neretva River. Catholic Croats held the west and Muslim Bosniaks the east, much as they do today. Under socialist Yugoslavia, the road was called Boulevard of the People's Revolution, but as the people splintered along ethnic and sectarian lines, so it became simply 'Bulevar'. Two decades on, Bulevar remains an unofficial borderline between Croats and Bosniaks in a town that symbolizes more than any other the dysfunction of post-war Bosnia. To match Insight BOSNIA-PROTESTS/ REUTERS/Dado Ruvic/Files (BOSNIA AND HERZEGOVINA - Tags: CIVIL UNREST POLITICS CONFLICT)
Am ehesten betrachten die Bosniaken Bosnien-Herzegowina als ihren Staat. "Wir haben keine andere Heimat", sagt Husejin Smajic, der Mufti von Sarajewo. Die Bosniaken können mit finanzieller Hilfe aus der Türkei, den Golfstaaten oder Saudi-Arabien rechnen.

Die Republika Srpska, eine der zwei Entitäten in Bosnien-Herzegowina, geht bereits einen eigenen Weg und beachtet Sarajewo nicht. In dem autonomen Gebiet weht keine einzige bosnisch-herzegowinische Fahne, und auch der Präsidentensitz ist mit drei großen serbischen Bannern beflaggt. Wie Präsident Milorad Dodik vor österreichischen Journalisten erklärte, beteiligen sich die Serben an den sozialen Protesten nicht, weil es ihnen besser geht als den Menschen in der Föderation. "Bei uns wächst die Wirtschaft, und die Arbeitslosigkeit sinkt."

Zwei serbische Staaten

Der 55-jährige Politiker mit separatistischen Ambitionen hält an der Einhaltung des Friedensabkommens von Dayton in der ursprünglichen Fassung fest und fordert die Rückgabe der Kompetenzen, die an die Zentrale abgegeben wurden. "Wenn unsere Forderungen nicht erfüllt werden, organisieren wir eine Volksbefragung. Die internationale Gemeinschaft hat zwei albanische Staaten akzeptiert, so wird sie auch zwei serbische akzeptieren", droht Dodik. Dodiks Meinung über die Tätigkeiten der Hohen Repräsentanten – zwei davon, Wolfgang Petritsch und Valentin Inzko, kamen aus Österreich – ist vernichtend: "Sie kassieren nur hohe Gehälter und respektieren unsere Gesetze nicht. Diese Gelder werden dann auch noch als humanitäre Hilfe für Bosnien verbucht."

Wiederaufbau

So wie überall wurden nach dem Bürgerkrieg zuerst die Kirchen und die Moscheen wieder aufgebaut. Ohne Rücksicht auf die tatsächliche Zahl der Gläubigen. Die Franziskaner-Kirche in Mostar bekam einen neuen Glockenturm, der viel höher ist als der ursprüngliche und sämtliche Minarette in der Stadt überragt. Auf vielen zweisprachigen Ortstafeln – soweit überhaupt vorhanden – sind die kyrillischen Aufschriften übersprayt. Die Zusammenarbeit zwischen den religiösen Führern auf lokaler Ebene klappt kaum. In einem gemischten Dorf, wo Bosniaken und Kroaten von der serbischen Armee gleich grausam massakriert wurden, spricht der Dorfpfarrer nicht mit dem Imam. Obwohl die Gemeinde große Probleme mit der Wasserversorgung hat. Zu besprechen gäbe es viel.

Die Verwaltung der bosnischen Föderation mit zehn Kantonen und der Republika Srpska sollte dringend vereinfacht werden. Zurzeit gibt es drei Präsidenten, 14 Regierungschefs und 155 Minister. 60 Prozent des staatlichen Etats geht für die Beamtengehälter auf.

Volkszählung

Wie die ethnische Zusammensetzung wirklich ist, weiß niemand. Im Vorjahr wurde eine Volkszählung durchgeführt, die erste seit 1991. Vermutlich sind die Einwohnerzahlen geschrumpft, denn viele Flüchtlinge sind nach dem Krieg nicht mehr zurückgekehrt. Die Volkszählung könnte zum heißen Eisen werden, denn es zeichnet sich ab, dass es zu Verschiebungen der Anteile der ethnischen Gruppen kommen wird. Das hätte weitreichende Konsequenzen auf parlamentarische und administrative Bereiche. Deshalb schweigen die Behörden, offizielle Ergebnisse will man erst nach den Parlamentswahlen im Oktober veröffentlichen.

"Eigentlich sind wir alle im Grunde Atheisten. Sonst könnten wir nicht einen so brutalen Krieg geführt haben", sagt Violeta Maric, Caritas-Mitarbeiterin in Mostar. Der bosnische Krieg von 1991 bis 1995 forderte hunderttausend Tote. Caritas Österreich leistet in Bosnien-Herzegowina Hilfe ohne Rücksicht auf die religiöse Zugehörigkeit.

Als "Hoher Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft" hat der österreichische Spitzen-Diplomat Valentin Inzko (64) in Bosnien-Herzegowina die Rolle eines "Mediators".

Bosnien: Stille Verzweiflung, leiser Protest
European Union High Representative for Bosnia and Herzegovina Valentin Inzko briefs the media on the arrest of Bosnian Serb wartime general Ratko Mladic, outside the EU Commission headquarters in Brussels May 26, 2011. REUTERS/Francois Lenoir (BELGIUM - Tags: POLITICS CONFLICT)
KURIER:Ein Lokalaugenschein in Bosnien lässt annehmen, dass die wirtschaftliche Lage besser ist, als die Statistiken es erwarten lassen würden?Valentin Inzko:Ja, es ist wirklich eine komische Situation. Jeder Siebente im Lande ist arbeitslos, jeder Sechste hat ein Auto. Die Arbeitslosenquote liegt offiziell bei 44 Prozent. Die Hälfte davon hat Arbeit, aber ist nicht sozialversichert. Die Summe der Gelder, die die Gastarbeiter nach Hause schicken, macht 15 Prozent des BIPs aus.

Es gibt Stimmen, die behaupten, dass die sozialen Unruhen im Februar aus dem Ausland gesteuert waren?

Es könnte sein, dass die Gewaltakte gelenkt wurden. Die Staatsanwaltschaft untersucht die Vorkommnisse.

Wie realistisch sind die EU-Beitritts-Chancen für Bosnien?

Ohne Serbien wird es nicht gehen. Erst wenn Belgrad so weit ist, wird auch Sarajewo dabei sein. Genauso ist es auch mit dem NATO-Beitritt Bosniens. Eine Verfassungsänderung ist dringend notwendig, aber keiner weiß wie! Fünf Versuche, die Verfassung zu reformieren, sind gescheitert. Jetzt hat jeder Angst, dass es wieder nicht durchgeht. Der neue Entwurf muss gut vorbereitet und auch mit der Türkei, Russland und den USA akkordiert werden.

Für Ihre Tätigkeit als Hoher Repräsentant wird Ihnen in Bos­nien nicht gedankt. Im Gegenteil, Sie werden kritisiert.

Ja, die lokalen Politiker sind sauer auf mich, dass ich meine Vollmachten nicht ausübe und zum Beispiel korrupte Politiker nicht feuere. Oder dass ich die Amtszeit der Politiker nicht auf acht Jahren begrenzte. Das kann ich aber nicht. In der internationalen Gemeinschaft, deren Repräsentant ich bin, gibt es keine Zustimmung für hartes Durchgreifen in Bosnien. Es wird auf lokale Verantwortung gesetzt, lokale Lösungen werden verlangt. Jetzt langsam wendet sich das Blatt, weil es sichtbar ist, dass man mit der Politik des Nicht-Eingreifens seit acht Jahren nichts erreicht hat, es herrscht Stillstand.

Kommentare