"Verbrechen als Genozid anerkennen"

Türken-Premier Davutoglu versteht „den Schmerz“
Österreichs Parlament findet klare Worte zu den Ereignissen 1915. Türkische Verbände in Österreich protestieren.

Die Jahre des Herumlavierens in dieser heiklen Frage sind mit dem heutigen Tag beendet: Das österreichische Parlament wird eine gemeinsame Erklärung vorlegen, wonach die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich ab 1915 als Völkermord bezeichnet werden – getragen von allen sechs, in der heimischen Legislative vertretenen Parteien.

Es sei die Pflicht Österreichs, heißt es in dem Entschluss, die schrecklichen Geschehnisse als Genozid anzuerkennen und zu verurteilen. Ebenso sei es die Pflicht der Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches, das im Ersten Weltkrieg mit dem Deutschen Reich und der Habsburger Monarchie verbündet war, "sich der ehrlichen Aufarbeitung dunkler und schmerzhafter Kapitel ihrer Vergangenheit zu stellen und die Verbrechen an den Armeniern als Genozid anzuerkennen".

Garo Chadoian vom Österreichisch-Armenischen Komitee für Gerechtigkeit und Demokratie begrüßt die Initiative der Parlamentarier. Zugleich bedauert er es, dass Bundespräsident Heinz Fischer kommenden Freitag nicht zum Genozid-Gedenken in die armenische Hauptstadt Eriwan reisen und nur durch den Botschafter vertreten sein wird: "Das wäre ein sehr gutes Zeichen gewesen."

Protest der türkischen Verbände

Die türkischen Verbände in Österreich haben mit Protest reagiert: In einem ganzseitigen Inserat in der Presse gegen die gemeinsame Erklärung der sechs Nationalratsfraktionen protestiert. Dies sei "eine Enttäuschung", heißt es in dem offenen Brief. Die Erklärung, sei "ohne fundierte historisch-rechtliche Befunde erfolgt", so die türkischen Verbände. Man sei gegen eine "Verzerrung der Geschichte" und gegen "die Instrumentalisierung der Geschichte durch die Politik".

Verwiesen wird in dem Papier der Nationalratsfraktionen, das am Mittwoch veröffentlicht werden soll, laut APA auch auf die historische Verantwortung Österreichs, war die k.u.k.-Monarchie doch im Ersten Weltkrieg mit dem Osmanischen Reich verbündet. Die Armenier in Österreich begrüßten die Erklärung.

Auch Berlin spricht von Völkermord

Wie Wien verwendet nun auch Berlin erstmals das Wort Völkermord in diesem Zusammenhang – zwar nicht so explizit, aber dennoch: In einer Bundestagserklärung heißt es, "dass das Schicksal der Armenier im Ersten Weltkrieg beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde im 20. Jahrhundert steht". So oder ähnlich haben bereits mehr als 20 nationale Parlamente die Ereignisse von damals klassifiziert. Auch das Europaparlament kam in der Vorwoche zu dieser Einschätzung.

Je nach Quelle kamen damals zwischen 300.000 und 1,5 Millionen Armenier ums Leben – vor allem durch Massaker und Todesmärsche. Den Beginn markiert der 24. April 1915, als ein Kesseltreiben gegen die intellektuelle und geistliche Elite Konstantinopels, des heutigen Istanbuls, einsetzte.

Die Türkei verwehrt sich weiterhin kategorisch gegen den Begriff Genozid und spricht von bedauerlichen Todesfällen im Zuge der Kriegswirren. Während Staatspräsident Tayyip Erdogan den jüngst getätigten Völkermord-Vorwurf von Papst Franziskus als "Unsinn" abtat, zeigte sich sein Premier Ahmet Davutoglu kompromissbereiter. Der Regierungschef meinte: "Wir teilen den Schmerz der Kinder und Enkel der Armenier, die ihr Leben bei Deportationen 1915 verloren."

Den Armeniern ist das zu wenig. Garo Chadoian wies die "falsche Entschuldigung", die ein Umdenken suggeriere, zurück. In Wahrheit würde in den türkischen Schulbüchern weiterhin gelehrt, "dass Armenier den Türken in den Rücken gefallen sind". Bis heute würden sie als innere Feinde gelten.

Papst Franziskus hat das Heft in die Hand genommen, und daraufhin wagten sich viele Bedenkenträger aus der Deckung: Das, was Hunderttausenden Armeniern vor 100 Jahren im Osmanischen Reich widerfahren ist, sei "Völkermord" gewesen. Mutige Worte, auf die die Türkei beleidigt und über das Ziel schießend reagierte. "Unsinn", polterte Präsident Erdogan, die Klassifizierung der Ereignisse als Genozid durch das Europaparlament gingen dem Staatschef "bei einem Ohr rein und beim anderen wieder raus". Dieses nationalistische Gehabe ist nicht nur der Parlamentswahl am 7. Juni geschuldet, sondern auch der Paranoia der türkischen Führung, das Ausland wolle die Türkei demütigen und schwächen. Das ist zwar Humbug, aber die Regierungspartei AKP fährt gut damit.

Das päpstliche Vorpreschen zum 100. Jahrestag der Massaker ließ jedenfalls die Politik in Berlin und Wien umdenken. In beiden Parlamentserklärungen kommt das Wort Völkermord ausdrücklich vor.

Inhaltlich ist die Genozid-Frage von Historikern eigentlich beantwortet. Das Urteil der allermeisten: Es war Völkermord. Politisch ist die Sache komplizierter. Das Eingeständnis, für die bewusste Vernichtung von bis zu 1,5 Millionen Menschen verantwortlich zu sein, kommt einem eben nicht leicht über die Lippen. Der türkische Premier Davutoglu hat sich angesichts der Tatsache, dass immer mehr Länder von Ankara fordern, den Genozid anzuerkennen, wenigstens ein bisschen bewegt: Er teile den Schmerz der Nachkommen jener Armenier, die ihr Leben bei den Deportationen 1915 verloren hätten. An diese Geste sollten alle Seiten, auch die armenische, anknüpfen, um einen Schritt weiterzukommen. Ein bedingungsloses Einlenken Ankaras wird es nicht geben. Insofern wäre eine gemeinsame Historiker-Kommission, erweitert um internationale Experten, gesichtswahrend für die Türkei. Pikanterweise bremst Armenien. Das ist unverständlich, vor allem vor dem Hintergrund, dass die Faktenlage, wie Eriwan meint, ohnehin erdrückend sei. Genauso unverständlich ist es, dass der armenische Botschafter in Wien ein KURIER-Streitgespräch mit seinem türkischen Kollegen ablehnte. Die andere Seite würde bloß lügen, so die Begründung. Das zeugt von einer tiefen Kluft zwischen beiden Völkern und dass man von einer Lösung noch meilenweit entfernt ist.

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