Eine Welt-Kanzlerin findet ihre Führungsrolle

Angela Merkel, 60, am Donnerstag Abend: „Tschüss – ich bin dann ’mal weg und rette die Welt!“
Die deutsche Regierungschefin beeindruckt bei ihrem Krisenmarathon mit Pragmatismus, Stärke und Überzeugungskraft.

Welch eine Woche: Neun Städte in sieben Tagen, mit nur drei kurzen, aber hochaktiven Berlin-Stopps. Höhepunkt waren die wohl härtesten 30 Stunden in Angela Merkels Regierungszeit, praktisch ohne Schlaf. Der Verhandlungsmarathon von Minsk zur Ukraine-Krise unter ihrer Führung und der direkt anschließende EU-Gipfel zeigten, dass sie allerspätestens jetzt eine der drei wichtigsten Akteure der Weltpolitik ist. Selbst wenn Minsk doch nur der von ihr befürchtete "Hoffnungsschimmer, nicht mehr" bleiben sollte.

Nur als ihr CDU-Vorgänger Helmut Kohl das kurze Zeitfenster 1990 zur Wiedervereinigung nützte, war Deutschland ein solcher Faktor der Weltpolitik. Merkels Initiative gegen das Blutvergießen, die Aggression Putins und die für ganz Europa bedrohliche Eskalation ist der Höhepunkt von dem beständigen internationalen Bedeutungszuwachs des Landes – mit Merkel an der Spitze.

Im zehnten Jahr ihrer Kanzlerschaft ist sie die Dienstälteste aller wichtigen Staats- und Regierungschefs. Und seit der Finanzkrise 2009 die dominante Figur in Europa. Das gibt ihr das politische Gewicht, auf Augenhöhe mit Obama und Putin zu sprechen, den Präsidenten zweier Mächte, die eine Sonderrolle für sich wie keiner sonst beanspruchen und auch daher nun wieder härter aneinandergeraten. Merkels Deutschland liegt da nicht nur geografisch dazwischen. Die Kanzlerin ist so etwas wie der natürliche Ausgleich, obwohl fest verortet im westlichen Werte- und Bündnissystem.

Vieles befähigt sie dazu mehr als alle anderen Europäer. Zuerst die Größe und wirtschaftliche Stärke Deutschlands: Schon zahlenmäßig ist es das Schwergewicht auf dem Kontinent. Und es ist politisch stabiler als die größeren anderen Länder, seine Führungs-Kontinuität ist eine Klasse für sich.

Psychologie für Kompromisse

Dazu addieren sich Merkels persönliche Stärken: Unideologische Pragmatikerin bei voll bewusster Machtausübung. Mit so kontrollierten Emotionen wie bei niemandem sonst: An ihrer gepflegten Uneitelkeit prallen auch böseste Schmähungen wie die der Griechen ab. Ihre Auffassungsgabe und Konzentration, unterfüttert von einer eisernen Kondition, beeindrucken schon viele Verhandlungsgegner.

Und: Niemand auf dem höchsten internationalen Parkett arbeitet sich psychologisch so in den Verhandlungspartner ein und eröffnet damit auch in scheinbar aussichtslosen Situationen neue Kompromisslinien.

Merkels oft kritisierte Flexibilität, ihr Pragmatismus im täglichen Handeln ist aber unterfüttert durch wenige, dafür aber feste Überzeugungen: Vor allem die, dass Freiheit das kostbarste Gut ist. Ihre Erhaltung lohnt sich, auch wenn ein Misserfolg droht.

Es ist ein Erbe ihrer Herkunft. Jahrzehntelang in der DDR quasi eingesperrt, setzte sie auf Kompromisse statt Konfrontation wie manche Bürgerrechtler. Während westdeutsche Altersgenossen nach Paris fuhren, war sie als Klassenbeste in Russisch und Mathematik auf Moskau-Tour. Die Doktorin der Physik denkt auch komplexe Fragen bis zum Ende durch. Und handelt lieber langsam als übereilt, selbst wenn das in den Augen der Gegner oft Zaudern bedeutet. Ihre Initiative für einen Waffenstillstand zeigt, dass sie aber auch rasch Risken eingeht, wo es ihr wert scheint.

Dazu kommt, dass sie Putin besser kennt als jeder andere westliche Politiker, dass sie den besten Zugang zu ihm hat. Anders als die meisten Deutschen, vor allem die der SPD, traute sie dem früheren KGB-Agenten in Dresden zwar nie. Beide können aber auf dieser Basis gerade deshalb Klartext reden – notfalls auch auf Russisch und Deutsch. Wie Merkel ohne echte Druckmittel außer den bisher milden Sanktionen jonglierte, wie sie Verbündete von der Eskalation durch Waffenlieferungen an die Ukraine abhielt, war höchste Diplomatie und persönliche Überzeugungskraft.

Merkels Rolle als ehrliche Maklerin ist eben glaubhaft. "Kompromisse geht man ein, wenn die Vorteile die Nachteile überwiegen." Das sagte sie nur Stunden danach in Brüssel im Hinblick auf die störrische, bisher ihr gegenüber besonders rotzige neue griechische Regierung. Es ist aber für sie allgemeingültig: Merkel kommt mit allen klar.

Auch mit dem bisher ihr gegenüber spröden französischen Präsidenten François Hollande. Sein Einbinden in Moskau und Kiew minderte optisch die deutsche Dominanz der Mission – und macht ihn jetzt zu ihrem besseren Verbündeten in der EU.

Mit ihrer spontanen Initiative für den Frieden in Europa hat Merkel nun auch ein neues Kapitel deutscher Außenpolitik aufgeschlagen. Deutschland hat mit ihr spätestens jetzt das politische Gewicht in der Welt, das es seit 1945 aus guten Gründen nie voll nutzen wollte. Dass nun sogar die Linke Merkel für diese Rolle lobt, zeigt, dass die rundum im Lande angenommen wird. Schon vor Minsk erhob Demoskopie Allensbach: Die Deutschen sind heute mit sich und ihrem Land so zufrieden wie nie zuvor. Und mit ihrer Welt-Kanzlerin auch.

Merkels Marathon in Bildern

20.000 Kilometer kreuz und quer über den Globus, Verhandlungsmarathons mit bis zu 16 Stunden Länge, dazu eine Trauerfeier, Pressetermine und im Kanzleramt noch ein Lächeln für die Floristen am Valentinstag: "Eine Woche der Kanzlerin, die in die Geschichte eingehen wird" (FAZ-Titel).

Ihr Durchhaltevermögen ist tatsächlich legendär. "Eine Angst einflößende Kondition" lobte die Presse schon zu ihrem 60.Geburtstag im Vorjahr. Doch ihr Trick ist simpel: Sie könne "Schlaf speichern wie ein Kamel Wasser" und "einfach gut abschalten" erklärte sie einmal ihre Erholungs-Taktik. So beweist sie regelmäßig nach durchwachten Brüsseler Verhandlungsnächten, dass sie sich auch frühmorgens noch durchzusetzen versteht, dann, wenn andere rein aus Übermüdung politisch die Segel streichen.

So zeigte der französische Präsident François Hollande, beim diplomatischen Parallelslalom von Minsk bis Brüssel an ihrer Seite, aber nicht wie sie, ihn anführend, deutliche Zeichen von Übermüdung: Vor der Presse verwechselte er etwa Griechenland mit Ägypten, was er mit einem "ich sorge für gewisse Verwirrung" schlagfertig eingestand.

Die Kanzlerin dagegen blieb auch beim Endspurt zum Wochenende hin knochentrocken. Sie sei "konzentriert", meinte sie Donnerstagnacht auf Fragen nach ihrem Befinden – "und die Woche ist ja auch noch gar nicht zu Ende". Denn kaum zurück in Berlin, kümmerte sie sich wieder um Innenpolitik. Nur kommende Woche will sie kürzer treten.

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