Wie die Kindheit krankgeredet wird

Haben wirklich 40 Prozent der Jugendlichen Störungen? Oder haben wir ein gestörtes Verhältnis zu Kindern?
Martina Salomon

Martina Salomon

Die Pathologisierung der Kindheit schreitet munter voran

von Dr. Martina Salomon

über Kinder- und Jugendgesundheit

40 Prozent aller 15-jährigen Schüler klagen über psychosomatische Störungen wie Kopf- oder Bauchweh (und auch ein Drittel der Lehrer fühlt sich erschöpft). Das ergab eine aktuelle Studie der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit. Sie ist Wasser auf den Mühlen jener, die mehr staatlich finanzierte Therapie für Jugendliche fordern.

Die Pathologisierung der Kindheit schreitet munter voran. Davon profitieren Pharmaindustrie und eine wachsende Zahl an Therapeuten. Im Erfinden neuer Krankheiten und hochgestochener Begriffe war die Gesundheitsindustrie in den vergangenen Jahrzehnten besonders erfolgreich.

Wenn in der westlichen Welt über Kindheit diskutiert wird, sind die Assoziationen fast immer negativ: Armutsgefährdung, schwierige Vereinbarkeit von Job und Familie, Schulprobleme, Alkohol, Übergewicht ... Dass es für Kinder prinzipiell am gesündesten ist, in einer „normal“ funktionierenden Familie mit Geschwistern sowie leiblichen Eltern (ja, sie dürfen auch heterosexuell sein) zu leben, die für sie ausreichend Zeit haben, traut sich nicht einmal mehr die ÖVP zuzugeben. Wer dieses theoretische Idealbild formuliert, läuft Gefahr, als hinterwäldlerischer Spießer zu gelten. Sophie Karmasin hat als neue Familienministerin bisher recht professionell agiert. Aber in Wahrheit wurde sie von der ÖVP nur geholt, um ein vages Modernitäts-Signal auszusenden. Und während man in skandinavischen Ländern sowie Frankreich bereits darüber diskutiert, ob die zunehmende Zahl ge- und verstörter Jugendlicher darin wurzelt, dass man die Kinder viel zu früh und viel zu lang in Betreuungsstätten steckt, wird bei uns noch fleißig daran gearbeitet, die Kindheit staatlich zu reglementieren und alle über einen Kamm zu scheren. Da muss dann auch – wie am Freitag von der Unterrichtsministerin – das teure Experiment „Neue Mittelschule“ schöngeredet werden: Trotz deutlich höherem Personaleinsatz schneidet die NMS nicht besser ab als die alte Hauptschule. Na hallo, ist das ein Erfolg? Gymnasiasten bringen zum Teil sogar um ein Drittel bessere Ergebnisse.

Repariert, psychologisiert, medikamentiert

Um nicht missverstanden zu werden: Ja, es braucht dringend Schulreformen, es muss mehr Ganztagsbetreuung und auch mehr Therapieplätze für Junge geben. Ja, bei zerrütteten Ehen ist es für Kinder besser, bei einem alleinerziehenden Elternteil zu leben. Ja, Patchworkfamilien sind nicht immer einfach, doch viele funktionieren bestens. Aber in Österreich wie in vielen westlichen Industrieländern haben gerade die Mittelschichten einen viel zu komplizierten Zugang zum Kind: Es soll punktgenau ins Leben passen. Wenn die Kinder problematischer sind als erwartet, müssen sie vom Bildungs- und Gesundheitswesen repariert und kategorisiert werden.

Karmasin will sich übrigens wie der neue deutsche Vizekanzler Sigmar Gabriel trotz des Spitzenjobs für den Nachwuchs Zeit nehmen. Das ist ein positives Zeichen für einen entspannteren Umgang mit Familie – und gegen die Pathologisierung ganz normaler Kinder.

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