Zuaständ

Guido Tartarotti

Guido Tartarotti

In der Medizin ist es ja so: Immer, wenn wir etwas haben, fehlt uns etwas.

von Guido Tartarotti

über Wehklagen

Meine andere Oma war praktische Ärztin, also Allgemeinmedizinerin. (Meine eine Oma war Hausfrau, Knödelköchin und auch sehr praktisch.) Arztkinder und -Enkelkinder sind ja ein bisschen merkwürdige Menschen – die ersten Worte, die ich als Kind sagen konnte, waren Mama, Pankreaskarzinom und Wiener Gebietskrankenkasse. Außerdem glaubte ich als Kind, die beiden häufigsten Krankheiten in Österreich hießen „Beschwerden“ und „ Zuaständ“. Meine Großmutter hat damals immer erzählt, 80 Prozent ihrer Patienten seien alte Frauen. Und wenn sie die frage, was ihnen denn fehle, würden sie stets antworten: „Frau Doktor, ich hab solche Beschwerden.“ Welche Art von Beschwerden? „Najo, ich hab immer so Zuaständ.“ Oder umgekehrt. Die Symptome der Krankheit „Beschwerden“ sind demnach Zustände, und die Symptome der Krankheit „Zuaständ“ sind Beschwerden. In der Medizin ist es ja so: Immer, wenn wir etwas haben, fehlt uns etwas. Meine Großmutter war nicht nur eine sehr gute Diagnostikerin, sondern auch eine ungeduldige und jedes Selbstmitleid verachtende Frau. Sie fand, wenn sie ohne Magen und mit zwei kaputten Knien die ganze Woche tagsüber in der Ordination stehen und abends auf Hausbesuche radeln könne, dann sollten sich auch andere Menschen gefälligst zusammenreißen. Wehklagen und Selbstmitleid war bei meiner Großmutter erst dann zulässig, wenn man mit dem Kopf unterm Arm im Wartezimmer saß oder mit heraushängenden Innereien. Oder ab 41 Grad Fieber plus grünviolett gestreiftem Nesselausschlag. Menschen, die mit „Beschwerden“ und „Zuaständ“ ins Behandlungszimmer kamen, weil ihnen fad im Schädl war oder weil sie an zu viel Tagesfreizeit laborierten, behandelte die Oma gerne mit erbarmungslosen verbalen Abreibungen, forte plus.

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