Gesundheitssystem vor Härtetest

Gesundheitssystem vor Härtetest
Wegen Grippealarm bereiten sich Spitäler auf Ansturm vor

"Wir stellen uns am Wochenende auf das Schlimmste ein. Schon heute ist bei uns grippebedingt die Hölle los", sagt Rudolf Schmitzberger. Er gehört zu jenen fünf bis sieben Wiener Kinderärzten, die an diesem Wochenende freiwillig aufsperren, um kurzfristig die Ambulanzen zu entlasten. Die Patienten werden über den Ärztefunkdienst ( 141) an einen der diensthabenden Ärzte zugewiesen.

Wie berichtet, sah sich die Ärztekammer zu dieser Aktion veranlasst, nachdem es am vergangenen Sonntag in der Kinderambulanz des Donauspitals wegen Überlastung zu Tumulten gekommen war. Damit das nicht mehr vorkommt, wird das Team im Donauspital dieses Wochenende verstärkt: Samstag und Sonntag werden jeweils sieben Ärzte in der Kinderambulanz im Einsatz sein, heißt es beim Krankenanstaltenverbund. Ein weiterer Mediziner steht im Bedarfsfall zur Verfügung.

Hinter der aktuellen Misere stecken massive Organisationsmängel: "Die ambulante Versorgung ist völlig unstrukturiert", kritisiert der Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer. Es gebe nicht einmal genaue Statistiken, wie viele Kinder wann und wo behandelt werden.

Patient hat keine Wahl

Hinzu kommt ein Missverhältnis zwischen der Versorgung im Spital und im niedergelassenen Bereich. "Man kann den Patienten nicht vorwerfen, dass sie die Ambulanzen stürmen", sagt ein Notfallmediziner im Wiener AKH. "Die Stadt investiert lieber in das Krankenhaus Nord als in die Versorgung außerhalb der Spitäler." So müsse man etwa in der AKH-Notfall-Ambulanz an einem Samstag bis zu 400 Patienten behandeln – in einer Abteilung, die für täglich 30 bis 80 Patienten konzipiert ist.

Abhilfe schaffen sollen Primärversorgungszentren, in denen Ärzteteams mit großzügigen Öffnungszeiten, die Patienten auch am Wochenende versorgen könnten. Nur: Der Weg dorthin ist steinig. Nach ewigen Streitereien soll demnächst das nötige Gesetz verabschiedet werden, von der Ärztekammer kommen nach wie vor massive Bedenken (siehe unten). "Nach diesem ewigen Streit bin ich nicht sicher, ob das noch etwas wird", ist Pichlbauer pessimistisch.

Von den bestehenden Kassenärzten finden sich nur wenige, die samstags oder sonntags ihre Ordi aufsperren wollen. "Wenn ich jetzt am Wochenende arbeite, ist die Honorierung nicht besser als an einem normalen Wochentag", kritisiert Kinderarzt Schmitzberger. "Seit Jahren kämpfen wir um eine bessere Lösung."

Die Wochenend-Versorgung ist aber nicht das einzige Problem. Die Zahl der Kassenordinationen hält mit dem enormen Bevölkerungswachstum Wiens nicht Schritt. Im Gegenteil: Laut Johannes Steinhart von der Ärztekammer gebe es heute rund 100 Kassenstellen weniger als im Jahr 2000. Manche der offenen Stellen lassen sich kaum noch besetzen. Regional gibt es ein massives Ungleichgewicht: Während in der Inneren Stadt ein Kinderarzt auf 8000 Einwohner kommt, sind es in Favoriten knapp 38.000 Menschen pro Kinderarzt (siehe Grafik).

Privatmedizin

Viele Mediziner ziehen den wesentlichen attraktiveren Job als Wahlarzt vor. Mittlerweile gibt es bereits 891 hauptberufliche Wahlfachärzte. Das ist kaum weniger als die 918 Fachärzte mit WGKK-Vertrag. Bei den Wahlärzten gibt es kaum Wartezeiten. Oft bekommt der Patient aber nur einen kleinen Teil der Kosten erstattet.

Es müsse wieder attraktiver werden, als Arzt zu arbeiten, fordert Ärztekammer-Präsident Artur Wechselberger.

KURIER: In Wien sind die Ambulanzen derzeit massiv überfüllt. Was läuft hier schief?

Artur Wechselberger: Die Verantwortlichen – die Länder und die Sozialversicherungen – kommen ihrem Auftrag nicht nach. Wir haben jetzt eine Situation, wo überall gespart werden muss, so auch an Ärzten und am Pflegepersonal. Es rächt sich jetzt all das, was in den vergangenen Jahren passiert ist. Man hat etwa die Ärzte vertrieben: Ein Viertel geht nach dem Studium ins Ausland. Man hat versäumt, den niedergelassenen Bereich so auszubauen, dass man Versorgungsproblemen in den Spitälern entgegenwirken könnte.

Betrifft dieses Problem ganz Österreich?

In allen Spitälern werden ambulante Leistungen zurückgefahren, ohne dass außerhalb ausreichende Ressourcen geschaffen werden.

Was sind Ihre Lösungsansätze?

Man muss sich überlegen, wie es wieder attraktiver wird, als Arzt zu arbeiten. Hier geht es nicht nur um das Gehalt. Es geht auch um die Arbeitsbedingungen, um die Wertschätzung, für Menschen, die über das Maß hinaus arbeiten wollen. Und es geht auch um Entwicklungschancen. Ärzte haben keine Möglichkeit, ihre Praxen so zu gestalten, wie sie glauben, dass es die heutige Medizin erfordert.

Eine Möglichkeit, die Ambulanzen zu entlasten, ist die geplante Primary Health Care (PHC), wo Ärzte und andere Medizinberufe miteinander zusammenarbeiten. Warum steht die Ärztekammer diesem Projekt so skeptisch gegenüber?

Weil die Prioritäten falsch gesetzt werden. Die Politik, etwa in Wien, versteift sich zu sehr auf einzelne Zentren, in denen die Ärzte unter einem Dach zusammenarbeiten. Das sind theorielastige Sandkastenspiele. Diese Zentren mögen zwar zum Teil ihre Berechtigung haben, haben aber nicht Priorität. Viel naheliegender ist es, bestehende Einrichtungen zu vernetzen. In der Steiermark haben wir schon ein funktionierendes Modell, das von der Ärztekammer initiiert wurde. Ähnliche Modelle könnte man auf ganz Österreich ausweiten.

Steckt hinter dem Widerstand der Ärztekammer nicht auch die Angst, bei der Vertragsgestaltung für solche Zentren an Einfluss zu verlieren?

Im beschlossenen Konzept von 2014 ist die Vertragsgestaltung so festgehalten, wie sie bisher war. Jetzt will man plötzlich vom bewährten System des Gesamtvertrages zu Einzelverträgen wechseln, die die Sozialversicherungen mit den Ärzten abschließen sollen. Das ist ein übles Spiel, um Macht auszudehnen. Es geht immer mehr um Kontrollmacht, Planungshoheit und Sanktionsmöglichkeiten.

Demnächst soll das PHC-Gesetz vorgelegt werden. Braucht es ein solches Gesetz überhaupt?

Nein. Was jetzt als neu verkauft wird, steht ja jetzt schon im ASVG. Dieses müsste einfach erweitert werden. Oder das bestehende Gruppenpraxengesetz. Es ist derzeit so rigide, dass es nicht einmal möglich ist, Ärzte anzustellen oder das in der Praxis auch nichtärztliches Personal arbeiten darf.

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