Die Entzauberung des Dschihad

Die Vorstellung vom Einsatz im Heiligen Krieg hat für Jugendliche vorläufig an Attraktivität verloren.

Mertkan G. ist Österreichs jüngster Terrorverdächtiger. Am Dienstag startet der Prozess gegen den 14-Jährigen. Ihm werden die Kontaktaufnahme zur Terrormiliz IS, die Bereitschaft zum Kampf in Syrien, die Anleitung zur Begehung eines Terroranschlags sowie der Versuch, einen 12-jährigen Mitschüler für den IS-Kampf zu rekrutieren, vorgeworfen. Für die Staatsanwaltschaft ist G. ein "Schläfer", also ein IS-Mitglied, das jederzeit für den Kampf im Heiligen Krieg bereit wäre.

200 Personen sind laut Innenministerium von Österreich aus in den Dschihad gezogen. 70 kehrten zurück, 30 sind im Krieg gestorben. Unter anderem das habe die Attraktivität im Dschihad zu kämpfen, schwinden lassen. "Manche Jugendlichen haben Freunde oder Bekannte im Dschihad verloren", sagt Verena Fabris, Leiterin der Beratungsstelle Extremismus. Die Erzählungen von Rückkehrern ließen den Heldenmythos bröckeln: "Es hat zum Teil eine Entmystifizierung stattgefunden", erklärt Fabris. Diesen Eindruck habe sie von den Sozialarbeitern in den Wiener Jugendzentren erhalten. Sozialarbeitern wie David Schwarz. Der 41-jährige leitet das Jugendzentrum Meidling in der Lichtensterngasse.

Ernst und Provokation

Viele Jugendliche kommen aus der direkten Umgebung ins Jugend-Café, andere fahren quer durch Wien, um dort ihre Zeit zu verbringen.

Auch David Schwarz war schon mit Jugendlichen konfrontiert, die mit dem Dschihadismus sympathisiert haben. "Das Thema taucht mit Reizwörtern wie ,ISIS’ oder mit Symbolen, wie dem arabischen Schriftzug auf der schwarzen Flagge und Varianten davon auf", sagt Schwarz.

Die Entzauberung des Dschihad
Jugendzentrum Meidling, David Schwarz, Sozialarbeiter, Deradikalisierung, Am Schöpfwerk
Einmal habe ein Jugendlicher im Zentrum auch ein Dschihad-Video gezeigt. "Wir haben thematisiert, dass das nicht passt, dann wurde das Video abgedreht. Danach haben wir das Thema noch einmal aufgegriffen und mit den Jugendlichen diskutiert", erzählt Schwarz. Es sei wichtig, den Jugendlichen nicht nur eine Grenze auf-, sondern auch Interesse an ihnen zu zeigen. "Ich muss abwertendes Verhalten nicht anerkennen, aber ich kann sagen: ,Ich will wissen, worum es dir geht.’ Egal, ob es als Provokation oder ernst gemeint ist", sagt Schwarz. Oft stehe dahinter ein Gefühl der Ungerechtigkeit und Orientierungslosigkeit. Die Jugendlichen fänden ihren Platz in der Gesellschaft nicht.

Bewusstseinsänderung

Im Jugendzentrum werden viele Gespräche geführt, die Jugendlichen können sich aber auch ausleben. Bei Sport, Tanz oder Musik. Auch Wochenendfahrten für Cliquen werden organisiert.

Die große Welle an Sympathie für den Dschihadismus sei in Österreich seit Ende vergangenen Jahres etwas abgeflaut, meint Schwarz.

Ähnliches weiß auch Kenan Güngör zu berichten. Der Soziologe ist Inhaber des Forschungs- und Beratungsbüros think.difference und Vorsitzender des Expertenforums für Deradikalisierung und Extremismus der Stadt Wien. Laut Güngör habe bei sympathisierenden Jugendlichen eine leichte Bewusstseinsänderung stattgefunden. Denn je stärker das Thema in den Medien sei, desto stärker sei es im Bewusstsein der Jugendlichen. "Zu Beginn gab es noch Idealismus und ein vermeintliches Unrechtsbewusstsein, um die vom Assad-Regime gefolterten und umgebrachten muslimischen Brüder und Schwestern zu verteidigen. Der IS hat mit dem vermeintlichen Schutzgedanken Propaganda gemacht", sagt Güngör.

Doch zuletzt sei immer mehr über die Gräueltaten der Terrormiliz bekannt geworden. Über die Enthauptungen, Vergewaltigungen und die Anschläge auf das Satiremagazin Charlie Hebdo. "Das hat dazu geführt, dass ein Teil der sympathisierenden muslimischen Jugendlichen davon Abstand genommen hat", sagt Güngör. "Für sie hat eine Entzauberung stattgefunden. Der Hype ist etwas zurückgegangen. Vorläufig." Dass damit gleichzeitig auch die Zahl radikalisierter Jugendlicher sinkt, sei laut Güngör ungewiss.

Eine fachliche Auseinandersetzung mit dem Thema ist laut Sozialarbeiter David Schwarz auch weiterhin nötig. "Dass wir in Österreich Jugendliche haben, die den Krieg in Syrien vorziehen und dort ein Sinnangebot finden, regt zum Nachdenken an."

Info & Hotline

Jugendzentrum Meidling: Neben dem Regelbetrieb wird getöpfert, geturnt, getanzt. Auch ein Sportplatz ist vorhanden. 12., Lichtensterngasse 2.

Beratungsstelle Extremismus: Ansprechpartner für Angehörige von Jugendlichen, die sich einer radikalen religiösen bzw. politisch extremen Gruppe angeschlossen
haben oder damit sympathisieren. 0800-20 20 44.

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