„Zeit, Zuwendung, Zärtlichkeit“

13.06.2013, Linz, Bild zeigt Reinhard Haller, Foto Alfred Reiter
Der Psychotherapeut und Bestsellerautor über Narzissmus und Gegenmaßnahmen.

Reinhard Haller (62) ist Arzt, Psychotherapeut und Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik in Vorarlberg mit dem Schwerpunkt Abhängigkeitserkrankungen. Er ist insbesondere als psychiatrischer Gerichtsgutachter bekannt. Er verfasste unter anderem Gutachten zu den Fällen Jack Unterweger und Franz Fuchs. Zu einem Bestseller hat sich sein vor zwei Monaten erschienenes Buch Die Narzissmusfalle (ecowin-Verlag, 21,90 Euro) entwickelt. Es wurden davon bereits mehr als mehr als 25.000 Stück verkauft. Haller war zuletzt zwei Mal in Linz zu Vorträgen und Lesungen zu Gast.

KURIER: Sie diagnostizieren in Ihrem Buch eine ungesunde gesellschaftliche Entwicklung. Wo machen Sie Narzissmus fest?
Reinhard Haller: Narzissmus ist nichts Schlechtes, sondern etwas, das jeder Mensch braucht. Er betont das Selbstwertgefühl und das Ich-Bewusstsein – dass der Mensch sich durchsetzt, dass er Ziele hat, etc. Er hat viele Jahrhunderte als Makel gegolten. Der Stolz war zum Beispiel eine Todsünde. Er war jahrhundertelang verpönt und nur den Reichen und Mächtigen vorbehalten.
Heute ist der Narzissmus ein Stück weit zum Ideal geworden. Wir erleben eine Demokratisierung. Jeder kann seinen Narzissmus ein Stück weit leben. Das hat mit den positiven Dingen zu tun – wie dass die Menschen gesünder sind, älter werden, dass sie wohlhabender sind und sich im Mittelpunkt des großen Netzes sehen können, dass sie Geld haben usw.
Diese Entwicklung ist nun zu viel des Guten geworden. Ich mache das unter anderem daran fest, dass das Wort Narzissmus schon viel häufiger verwendet wird. Es gibt auch wissenschaftliche Belege und Umfragen in den USA, die das beweisen. Die narzisstischen Eigenschaften wie Egozentrizität, Selbstdarstellung, Rücksichtslosigkeit, etc. steigen dramatisch an. Gleichzeitig geht die soziale und emotionale Intelligenz zurück. Die österreichische Jugendstudie, die vor ein paar Wochen veröffentlicht wurde, belegt, dass nicht mehr Beruf und Partnerschaft das Wichtigste sind, sondern das Sich-selbst-Durchsetzen und das Sich-selbst-Darstellen.
Die heutigen Medien bieten mit den Show- und Castingbewerben dafür ideale Foren. Das ist in Wahrheit eine ganz grauenhafte narzisstische Vermarktung. Die Selbstdarsteller nehmen dafür Qualen und Demütigungen auf sich. Dieter Bohlen steht als Juror für dieses Erhöhen und Niedermachen.
In den Wirtschaftsentwicklungen ist viel auf Schein gebaut worden. Zum Beispiel die Bankenkrise. Hier ist ja nicht auf wirkliche, sondern auf unechte Werte gesetzt worden. Wir gehen auch mit der Umwelt sehr egozentrisch und verachtend um, ohne an die zukünftigen Generationen zu denken.
Selbst der neue Papst hat in seiner Rede vor dem Konklave gesagt, die Krise der Kirche ist eine Krise der narzisstischen Theologie. Also sich selbst erhöhen und andere niedermachen. Da hat er unzweifelhaft einen richtigen Befund gestellt. All diese Dinge beweisen mir, dass wir schon ein Stück weit im Narzissmus gelandet sind.

Sitzen in den Führungspositionen heute primär Narzissten?
Auf jeden Fall gehäuft. Wir müssen unterscheiden zwischen Charismatikern, die echte Werte darstellen, die mehr für die Idee als für sich selbst leben. Das tut der Narzisst nicht, er vertritt nur sich selbst. Unzweifelhaft ist der Narzissmus eine Karrierechance, denn wenn ich mich selbst für grandios halte und rücksichtslos bin, wenn ich auf die Gefühle der anderen keine Rücksicht nehme, dann fördert das meine Karriere. Ich glaube schon, dass wir in den Spitzenpositionen viele Narzissten haben.
Dazu kommt, dass der Narzisst extrem kritikempfindlich ist. Er ist im Austeilen stark und im Einstecken mimosenhaft. Es traut sich ihn kaum jemand zu kritisieren, dadurch wird er immer abgehobener. Auf diese Art und Weise kommt in vielen Fällen das Ende des Narzissten. Denn es will dann niemand mehr etwas mit ihm zu tun haben. Ein Partner macht das eine Zeit lang mit, Mitarbeiter sind nur eine Zeit lang Speichellecker. Es wird dann aber einsam um ihn oder es kommt zum großen Absturz.

Fördert der Kapitalismus nicht narzisstische Entwicklungen?
Das kann man ohne Weiteres bejahen. Das haben wir in den vergangenen Jahren gesehen. Das ist eindeutig.

Als ich in Ihrem Buch über den Jüngling Narziss gelesen habe, fiel mir der ehemalige Tennisprofi Boris Becker ein, der mit einer Kellnerin in einem Londoner Lokal in einer Abstellkammer Sex hatte, dabei ein Kind gezeugt hat und ihr daraufhin Samenraub vorgeworfen hat. Ist das nicht ein Beispiel?
Das ist ein treffendes, aber nur eines von sehr vielen Beispielen. Die Rolle von Dieter Bohlen ist zum Beispiel eine ganz narzisstische. Auch die von Paris Hilton oder auch von Christiano Ronaldo. Aber auch so Leute wie Uli Hoeneß, die die anderen niedrig halten, aber selbst abheben und meinen, sie schaffen sich ihre eigenen Gesetze. Die anderen sollen Steuern zahlen, er selbst aber nicht. Das sind ganz typische narzisstische Verhaltensweisen.

Eine Ursache für den Narzissmus sehen Sie in der Überfürsorglichkeit der Eltern in der Kindheit.
Es ist unzweifelhaft so. Es gibt zwei Risikofaktoren. Der eine ist, wenn man die Kinder überfürsorglich erzieht. Wenn die Kinder bei kleinen Erfolgen schon die Helden an sich sind. Wenn man in der Mathematikstunde schon den zukünftigen Nobelpreisträger sieht. Wenn man die Kinder verhätschelt, ihnen alles aus dem Weg räumt, wenn die Kinder nie lernen müssen, hinzufallen und wieder aufzustehen.
Das andere Extrem ist die völlige Lieblosigkeit. Wenn die Kinder die drei großen Z nicht bekommen: Zeit, Zuwendung und Zärtlichkeit. Weil die Eltern halt abwesend sind und groß Karriere machen. Dann entsteht ein Urbedürfnis nach Liebe, nach den damals vorenthaltenen Gefühlen. Das führt dazu, dass die Narzissten unersättlich sind. Das ist nicht Selbstliebe, sondern Selbstsucht. Sie können gar nicht lieben, auch sich selbst nicht. Sie haben kein Selbstbewusstsein, sie lieben nur die Fassade und den Schein. Danach sind sie süchtig.
Es spielt auch bei Verbrechern oft eine Rolle, dass sie sich zu wenig beachtet und geliebt fühlen. Deshalb fallen auch Beziehungskonflikte oft so brutal aus.

Das Zweite der zehn Gebote lautet, Du sollst den Nächsten lieben wie Dich selbst bzw. als Dich selbst. Sind die Grenzen zum Narzissmus nicht fließend?
Ich habe selbst drei Kinder und kann auch kein sicheres Rezept geben. Es geht im Leben darum, Extreme zu vermeiden. Wenn jemand einen gesunden Narzissmus hat, wird er sicher nicht zum krankhaften Narzissten werden. Der gestörte Narzisst ist ein selbstunsicherer Mensch. Er ist sich selbst nicht so viel wert, sodass er immer die Bestätigung in einer selbstsüchtigen Art und Weise von der Umwelt braucht und die anderen entwerten muss. Das ist das Gefährliche und Unangenehme an ihm. Er drückt andere nieder, um selbst großartig dazustehen.

Er saugt die Mitmenschen geradezu aus.
Es gibt die verschiedenen Formen der Narzissten. Einer davon ist der parasitäre. Für ihn ist es ganz selbstverständlich, dass andere nur für ihn da sind. Er hat nicht die geringsten Gewissensbisse, wenn er auf Kosten anderer Menschen lebt und diese aussaugt bis zum letzten Tropfen. Der Narzissmus besteht aus vier Elementen. Das eine ist die Eigensucht, die übersteigerte Egozentrik, es wird alles nur aus der Ich-Perspektive gesehen. Dazu kommt die extreme Empfindlichkeit und der Mangel an Empathie – sie können sich nicht in andere hineinversetzen.
Das macht die Leute zum Teil extrem gefährlich. Die großen Diktatoren waren ja nicht psychisch krank, sondern bösartige Narzissten. Wenn zum Beispiel beim römischen Kaiser Nero jemand nur gehustet oder einen konstruktiven Vorschlag gemacht hat, hat er ihn sofort umbringen lassen. So auch seine Mutter und Schwester.

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