Architektur sozialer Natur
2700 Kilometer ist der Krieg von Wien entfernt: Seit über vier Jahren tobt hinter der syrisch-türkischen Grenze ein blutiger Konflikt. Etwa 11,6 Millionen Syrer sind seither auf der Flucht. Vier Millionen haben ihre Heimat verlassen, der Rest sucht Schutz im eigenen Land. Weltweit, so schätzt das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR, suchten im vergangenen Jahr knapp 60 Millionen Menschen Zuflucht – die Zahl markiert den traurigen Höchststand seit dem Zweiten Weltkrieg.
Auslöser ist nicht allein der Bürgerkrieg in Syrien. Konflikte und Verfolgung haben auch in Afghanistan und Somalia, im Sudan und Nigeria zugenommen. Schutzsuchende leben meist in gigantischen Zeltstädten oder unter Planen auf engstem Raum unter unwürdigen Bedingungen. Eine Milliarde Menschen lebt mittlerweile in Slums, wo der Zustand häufig noch schlimmer ist. Da wie dort fehlt es oft an sanitären Anlagen und der nötigen medizinischen Versorgung. Zudem steigt die Aufenthaltsdauer in den Unterkünften: Zirka zwölf Jahre halten sich Jung und Alt in einem Zustand des "Dazwischen" auf. Damit sich das ändert, entwickeln Designer und Architekten Alternativen, die Flüchtlingen und Obdachlosen bessere Lebensbedingungen gewährleisten sollen.
Laut der deutschen Tageszeitung Die Welt liegt der Stückpreis für Better Shelter bei 1085 Euro – das ist doppelt so teuer als herkömmliche Lösungen. Dennoch hat der UNHCR bereits 10.000 Quartiere bestellt und will sie demnächst an bedürftige Familien ausliefern. Das zeigt aber, womit Architektur sozialer Natur in vielen Fällen zu kämpfen hat: der Finanzierung. Bis zur Umsetzung sind viele Jahre Forschung und Entwicklung notwendig – ein Prozess, der für kleine Designstudios und Architekturbüros schwer finanzierbar ist. Viele setzen daher auf Crowdfunding: Selbst kleine Spenden können helfen, die Lebenssituation vieler Millionen Frauen und Kinder, Männer und Jugendlicher menschenwürdiger zu gestalten. Bessere Unterkünfte können das Leid zwar nicht verhindern, womöglich aber etwas lindern.
Das Gebaute ist ein wichtiger Teil der Gesellschaft und Kultur eines Landes. Flüchtlinge, die hierher kommen, setzen sich zwar nicht mit der Architektur auseinander, aber sie müssen hier wohnen und sich zurechtfinden. Sie geraten in ein völlig neues Umfeld, dessen Architektur Teil davon ist.
Wie lange beschäftigt sich der Verein schon mit der Unterbringung von Flüchtlingen und woran wird zurzeit gearbeitet?
Das Thema wird seit etwa einem Jahr, seit der Flüchtlingsandrang im Mittelmeer kumuliert ist, diskutiert. Unsere Arbeit beschäftigt sich aber nicht mit Architektur im engeren Sinn, sondern mit konkreten Projekten. Wir wollen dem Problem aktiv begegnen und haben Arbeitsgruppen eingeführt: Das Team „Bauen“ versucht etwa, Flüchtlinge, die schon in ihrem Herkunftsland beruflich mit dem Bauen zu tun hatten, auch in Österreich bei der Ausübung ihres Berufes zu unterstützen. Die Gruppe „Wohnen“ hingegen kooperiert mit Organisationen, die sich mit der Unterbringung von Flüchtlingen beschäftigen, bietet Hilfestellung und architektonisches Know-how. Mit gehobenen Gestaltungsansprüchen hat das wenig zu tun, es geht um die Befriedigung des Notwendigsten.
Wie können Flüchtlinge menschenwürdiger unterkommen als in Containern oder Zelten?
Ich hatte mich damals in der Diskussion, Flüchtlinge in Kasernen unterzubringen, dagegen ausgesprochen – heute wäre ich froh angesichts der aktuellen Situation. Generell ist Gebautes einem Zelt vorzuziehen. Es schützt vor Umwelteinflüssen, gebaute Sanitäranlagen funktionieren besser. Die Frage ist keine architektonische, sondern die eines würdevollen Zusammenlebens. Wir wollen dazu beitragen, die Wohnungsnot zu lindern.
Wo und wie kann in Österreich Wohnraum für Schutzsuchende bereitgestellt werden?
Flüchtlinge sollen nicht weggesperrt werden, sondern unter uns in unseren Städten und Dörfern wohnen. Wir brauchen keine neuen Zelte, sondern müssen mit Bestehendem Arbeiten. Das erfordert auch politisches Engagement. Man sollte leer stehende Bürogebäude oder Erdgeschoßwohnungen suchen. Dann sind Architekturschaffende gefragt, die Räume mit den Flüchtlingen gemeinsam zu gestalten. Wir mussten lernen, dass in Gemeinschaftsküchen etwa nicht der Herd, sondern das absperrbare Vorratsfach am wichtigsten ist. Die Aufgabe der Architektur ist daher, auf die Bedürfnisse dieser Menschen einzugehen.
Was kann die heimische Architektur von Zuwanderern lernen?
Viele Flüchtlinge haben Erfahrungen mit traditionellen Bauweisen. Und sie wissen etwa, wie Kühlung auch ohne 20 cm Wärmedämmung funktionieren kann. Zweites Thema ist das Generationenwohnen. Auch hier könnten wir einiges lernen. Ein weiterer Aspekt ist unsere überregulierte Bautechnik, die wir dringend herunternivellieren müssen. Diese Leute können uns dabei helfen, unsere technokratische Bauphilosophie zu hinterfragen. Umgekehrt könnten Flüchtlinge von uns lernen wie man erdbebensicher baut.
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