Zukunft verleiht Flügel
Ein steife Brise weht durch Vaduz. Schneeflocken toben vor den Fenstern. "Heute werden die Flügel nicht ausklappen", sagt Anton Falkeis und streicht eine Locke aus dem Gesicht. Der eisige Wind wirbelt durch sein Haar als er am "Marxer active energy building" hochblickt. Doch da bewegt sich nichts: Die kinderzimmergroßen Fotovoltaik-Paneele liegen reglos auf dem Dach des futuristischen Wohnhauses. "Bei starken Sturmböen bleibt die Anlage in Ruheposition", erklärt er.
Was schade ist, schließlich ist das Vorzeigeprojekt das Resultat eines mehrjährigen Experiments, an dem der Wiener Architekt gemeinsam mit seiner Büropartnerin Cornelia Falkeis-Senn getüftelt hat. Der 81-jährige Liechtensteiner Bankier Peter Marxer hatte sie nach einem Wettbewerb im Jahr 2011 mit dem Wunsch beauftragt, ein nachhaltiges Gebäude, das so stark wie möglich auf erneuerbare Energien setzt, zu entwerfen. "Das Thema war meinem Vater sehr wichtig. Er wollte der nächsten Generation etwas weitergeben", erzählt Florian Marxer.
Dem Auftrag widmete sich das Paar mit großem Eifer: "Wir waren sechs Jahre Vollzeit beschäftigt, teilweise mit bis zu sieben Mitarbeitern", resümiert Falkeis. Um stets unter optimalen Bedingungen arbeiten zu können, wurde eine temporäre Hülle über die Baustelle gestülpt. "Keine Seltenheit in Liechtenstein", betont er.
Auch wenn heftige Winde einen Teil der Gebäudepräsentation unmöglich machen, spürt man die visionäre Ausrichtung des Hauses an jeder Ecke. Eine ganze Reihe von Innovationen stecken in dem Bau. Der Einsatz von Paraffin in der Gebäudehülle zählt aber zu den größten Errungenschaften. "An der Universität Luzern wurde ein eigenes Prüfverfahren entwickelt, um das Brandverhalten von Paraffin in Aluminium-Kapseln zu untersuchen. Auf Basis dieser Ergebnisse haben wir eine Erlaubnis von einer Schweizer Zulassungsbehörde bekommen. Innerhalb Europas ist das wie ein Persilschein: Die Technik könnte nun an jedem Gebäude angewendet werden."
Insgesamt sind 1,8 Tonnen in den Klimaflügeln verkapselt, mit deren Hilfe die Raumtemperatur unterstützend reguliert wird. Das wachsartige Phase-Change-Material (kurz: PCM) hat den Vorteil, beim Aggregatwechsel von fest auf flüssig sehr hohe Energiemengen einlagern bzw. abgeben zu können. Je nach Tages- oder Nachtzeit klappen die Flügel aus der Fassade und neigen sich der Sonne oder dem nächtlichen Sternenhimmel zu. Ab einer Temperatur von 31 Grad beginnt die Masse zu schmelzen, unter 21 Grad verfestigt sie sich. Ist der Vorgang abgeschlossen, legen sich die Flügel wieder ans Gebäude an und verbinden sich mit der Lüftungsanlage. Über diese wird die gespeicherte Wärme bzw. Kälte ins Innere abgegeben. 24 m² Heizflügelfläche können so rund zehn Prozent der Heizleistung erzielen, 15 m² Kühlflügel-Fläche schaffen zirka 16 Prozent der Kühlleistung.
Um die Sonnenenergie auch aktiv zu nutzen, wurde eine Fotovoltaik-Anlage mit Nachführ-System installiert. Sie basiert auf einem neu entwickelten, gebäude-integriertem Solar-Tracker, der mit einer Wetterstation verbunden ist. Die bis zu 14 m² großen Solarpaneele heben sich bei Sonnenaufgang aus dem Dach und drehen sich im Tagesverlauf mit der Sonne mit. Das steigert den Ertrag um fast das Dreifache: "Bisher hat man geglaubt, dass Nachführen wenig bringt. Diesen Irrglauben haben wir widerlegt", sagt Falkeis.
Weitere Energie wird mithilfe zweier Erdwärmepumpen gewonnen. So versorgt das autarke Haus nicht nur sich selbst, sondern auch andere: Als Versorgungsknoten eines Clustersystems speist es vier weitere Büro- und Wohngebäude mit Strom. Der Rest fließt in E-Autos in der Garage im Untergeschoß, weitere Überschüsse werden an lokale Stromanbieter verkauft. "Das ‚active energy building‘ produziert Energie für bis zu zehn Einfamilienhäuser und stellt somit einen Prototyp für eine urbane, dezentrale Energieversorgung dar", schildern die Planer.
Neuerungen finden sich auch in der Konstruktion des Stahlbeton-Baus. Die tonnenschweren Klima-Elemente sind in eine Voronoi-Struktur aus Stahl eingebettet, die ein leichtes und zugleich stabiles Tragewerk ermöglicht. Sie zieht sich als wabenförmiges weiß-silbriges Netz über Teile des Hauses. Für Schatten sorgen anthrazit-braune Textilbahnen, die aus der Fassade hervorkommen und sich wie Schutzdächer vor den Fenstern der Wohnungen aufdrehen.
Die zwölf Einheiten selbst sind hochwertig ausgestattet: Küche, Bad und Wirtschaftsraum sind mit allen erforderlichen Elektrogeräten bestückt. Einbaumöbel und -schränke schaffen Stauraum und halten die Emissionsklasse der Möblierung niedrig, wodurch die Lüftungsraten reduziert werden.
Ebenso wenig Gedanken müssen sich Mieter um die Beleuchtung machen. In linsenförmige Aussparungen in den Decken sind akustisch aktive Lichtfelder eingesetzt. Zudem sind Spots in den dunkel gebeizten Holzboden eingelassen. "Die LEDs sind stromsparend und dem Tageslicht sehr ähnlich", sagt Cornelia Falkeis-Senn.
Wie das Energiekonzept entwickelt sich auch das Raumkonzept aus einem ganzheitlichen Nachhaltigkeits-Begriff heraus. Es folgt einer Stützstruktur aus A- und V-förmigen, symmetrischen und asymmetrischen Säulen, die baumartig durch das Gebäude wachsen. Anzahl und Position wurde von einem Algorithmus berechnet, "um die höchste Tragfähigkeit mit der geringsten Stückzahl zu erreichen", erklärt die Architektin. Insgesamt 59 Stützen bilden zusammen mit den Geschoß-Platten ein minimalistisches Tragwerk, das große Flexibilität in der Grundrissgestaltung gewährleistet. "Anpassungsfähig über die gesamte Lebensdauer – dann ist ein Gebäude wirklich nachhaltig", so die Devise der Architekten.
Auch die Betonmischung geht auf das Konto der Planer und wurde speziell auf deren Wunsch angefertigt: Sie ist selbstverdichtend und zeichnet sich durch eine feine Struktur aus. Falkeis-Senn: "Die Haptik der Säulen war ein wichtiges Thema. Die Oberfläche ist samtig weich und abwaschbar. Man könnte sogar mit Filzstiften darauf schreiben."
All das schlägt sich natürlich in den Baukosten nieder – die jedoch streng geheim gehalten werden. "Da es sich um ein Privatgebäude handelt, sind auch die Kosten Privatsache", sagt Florian Marxer, der selbst die Penthouse-Wohnung beziehen wird. Obwohl die Errichtungskosten in astronomischen Höhen liegen dürften, sollen die Wohnungen zu ortsüblichen Preisen vermietet werden, betont Marxer. In Liechtenstein sind das rund 25 Euro pro Quadratmeter. "Projekte wie diese können nur privat finanziert werden. Ein öffentlicher Bauträger könnte das nicht ermöglichen", sagt Falkeis.
Auch wenn sich der Bau finanziell (noch) nicht rentiert, so leistet er doch einen wichtigen Beitrag für die Bauforschung. Das Gebäude wurde schon an zahlreichen kulturellen und akademischen Institutionen, unter anderem in New York, Norwegen und Costa Rica, vorgestellt. Paraffin in Gebäudehüllen wäre zudem auch für den Wohnbau denkbar: "Noch ist das Verfahren zu komplex. Als nächsten Schritt wollen wir standardisierte Elemente generieren, die jeder Fassadengestalter anwenden und auch zur thermischen Sanierung genutzt werden können."
Wie lange das dauern wird, ist ungewiss. "Das hängt davon ab, in welchem Land die Forschung stattfinden wird", sagt der Architekt. Außer Zweifel ist jedoch: Die Planer haben echte Pionierarbeit geleistet, von der nicht nur künftige Bauherren, sondern auch die Umwelt im großen Stil profitieren könnte.
Fossile Brennstoffe sind umweltschädlich und endlich. Die Alternativen:
Biomasse
Pflanzen oder andere organische Stoffe wie Küchenabfälle werden unter anderem zur Biogas-Erzeugung genutzt. Holz dient meist in Form von Stückgut oder Pellets als Brennstoff für Zusatz- und Zentralheizungen.
Sonnenenergie
Mittels Solarthermie wird Wärme für die Warmwasser-Aufbereitung und/oder Heizung gewonnen. Bei der Fotovoltaik wird Lichtenergie in elektrische Energie, also Strom, umgewandelt.
Umwelt-Wärme
Luft, Wasser und das Erdreich (Geothermie) enthalten Wärme, die mittels Wärmepumpe zum Heizen und zur Warmwasser-Aufbereitung genutzt werden kann.
Windkraft
Mithilfe von Windrädern wird die kinetische Energie aus dem Luftstrom in elektrischen Strom umgewandelt. Windräder gibt es zwar auch im kleinen Maßstab, sie sind aber bei Privathäusern aufgrund der statischen Belastungen und der Geräuchentwicklung sehr selten.
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