Kinder mit Autismus lernen anders
Während andere Eltern im Alltag die Aufmerksamkeit ihres Kindes vielleicht auf einen herumtollenden Hund lenken, sagt Barbara Brandfellner etwa: "Schau, da ist ein Achter auf dem Schild." Martin findet andere Dinge spannender als die meisten Kinder. Und er ist genau. "Wenn wir sagen, um 8.10 Uhr gehen wir in den Kindergarten, dann besteht er darauf, dass wir wirklich um exakt 8.10 Uhr aufbrechen, nicht bereits um 8.05 Uhr."
Martin ist Autist, von klein an faszinieren ihn Zahlen und sich bewegende Dinge. Da hat der KURIER-Fotograf leichtes Spiel. Martin inspiziert die Anzeigen und Fotos auf dem Display der großen Profi-Kamera ganz genau. Regelmäßig kommt der Bub zu Therapien im Dachverband Österreichische Autistenhilfe in Wien.
Was ist Autismus?
Lernorientierter Ansatz nach den Bedürfnissen des Kindes
Im neuen Therapiezentrum in der Dampfschiffstraße wird mit der "Applied Behavior Analysis" (ABA) gearbeitet. In den USA ist dieser lernorientierte Ansatz Standard in der Förderung autistischer (Klein-)Kinder, in Österreich übernehmen die Kassen diese Therapie nicht. "Doch sie verändert sehr viel bei den Kindern und ist derzeit die international am besten empirisch untersuchte Therapiemethode bei Autismus-Spektrum-Störungen", sagt Jutta Steidl, Präsidentin des Dachverbands österreichischer Autistenhilfe. "Kinder mit Autismus lernen anders und werden durch andere Dinge motiviert." Gefördert werden Aufmerksamkeit, Sprache, soziales Verhalten, kognitive Fähigkeiten oder Spielverhalten – ganz nach den Bedürfnissen des Kindes. "Den Autisten" gibt es nicht, das Spektrum ist extrem breit, betont Zentrumsleiterin Sonja Metzler. Der Welt-Autismustag am 2. April soll das Bewusstsein für die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit dieser Störung erhöhen.
Reizarme Umgebung verhindert Ablenkungen
Frühe Diagnose erhöht die Entwicklungschancen
Je früher spezielle Förderung beginnt, desto besser sind die Entwicklungschancen. Steidl: "Internationale Erfahrungen zeigen, dass Therapien zwischen drei und sechs Jahren am effektivsten sind."Barbara Brandfellner ist rückblickend froh, dass sie und ihr Mann Martin nach dem ersten Verdacht früh untersuchen ließen. "Er hatte ein ganz anderes Spielverhalten als Gleichaltrige." Die Diagnose erhielt die Familie, als Martin 16 Monate alt war. "Wir wussten nun, dass es einen Grund gibt, warum er bestimmte Dinge so und nicht anders macht. Er kann halt nicht aus seiner Haut."
Die frühe Förderung – "das Ausschöpfen aller Möglichkeiten" – habe sich ausgezahlt. "Auch wenn wir auf Hilfe angewiesen sind, es hat sich alles gut entwickelt." Martin besucht als Integrativkind einen Kindergarten, im Herbst wechselt er in die Volksschule. Wie bisher wird ihn eine Stützkraft im Alltag begleiten. "Das braucht er auch. Er lässt sich gerne von Kleinigkeiten ablenken."
Die Familie fühlt sich gut in ihr privates und therapeutisches Netzwerk eingebunden. "Wir wollten immer, dass für Martin das Beste herausschaut." Bis heute ist Martin wenig an Spielen mit anderen Kindern interessiert und findet das "gar nicht spannend". Aber: "Er beobachtet gerne spannende Spiele." Und oft schießen ihm Zahlen durch den Kopf. Die sind für den Buben definitiv interessanter, als Nebensächlichkeiten wie An- oder Ausziehen.
Der Abend steht unter dem Motto „Befreit Autisten aus ihrer Isolation – All for Autism“ – heuer zum zweiten Mal. Unter den Künstlern sind etwa Netrebkos Ehemann, Tenor Yusif Eyvazov, Mezzosopranistin Annely Peebo, Geigerin Lidia Baich oder Schauspieler Jan Josef Liefers mit seiner Band Radio Doria. Soundtüftler [dunkelbunt] wird groovende Beats beisteuern.
Ihre persönlichen Erfahrungen schilderte Netrebko 2014 in einem Interview mit einem russischen TV-Moderator. „Ich habe gedacht, warum spricht das Kind nicht? Ich dachte zunächst, weil es vier Sprachen hört.“ Tiago besuche eine Schule in New York und mache gute Fortschritte, erzählte ihr Ehemann Eyvazov im Vorjahr in einem KURIER-Interview. „Er hat gelernt Gefühle zu artikulieren, was für Kinder mit Autismus ganz schwierig ist.“
Die israelische Armee beschäftigt Dutzende Autisten, unter anderem im Geheimdienst und auch in vielen Firmen kann die typische Fähigkeit eines außergewöhnlichen Blicks auf Details von Nutzen sein. Bis es soweit ist, stoßen Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen aber häufig auf Widerstände.
Mit einem begleitenden Assistenz-Angebot gibt es jedoch gute Erfahrungen. Ausgebildete Assistenten (Studenten aus psychosozialen Studien) begleiten Kinder und auch Erwachsene im Alltag. Sie erklären dem Umfeld etwa, warum sich ihr Schützling gerade so verhält. Und auch die Autisten lernen, sich zurechtzufinden. "Es geht nicht um kognitive Fähigkeiten, sondern um die individuellen Probleme zu kompensieren", erklärt Projektleiter Martin Felinger. Diese können in Sozialverhalten, Strukturierung, Organisation oder Umgang mit Emotionen liegen.
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