KURIER: Frau Torton Beck, Sie waren sechs, als Sie von den Nazis aus Wien vertrieben wurden. Woran können Sie sich erinnern?
Evelyn Torton Beck: Dass meine Oma ins KZ geschickt wurde, weil wir für sie kein Visum bekommen haben. Wir haben erst nach dem Krieg herausgefunden, dass sie nach Auschwitz kam; dass mein Onkel, meine Tante umgebracht wurden. Trotzdem kam ich nicht mit schlimmen Gefühlen hierher, sondern mit Offenheit. Vielleicht wollte ich so meine Kindheit zurückholen.
Bedeutet das, dass Sie keine bösen Erinnerungen an Wien haben?
Nein, nein, ich war dabei, als mein Vater verhaftet wurde. Kurz nach der „Kristallnacht“ klopfte es an die Tür unserer Wohnung in der Gussenbauergasse. Zwei Männer kamen herein und nahmen meinen Vater einfach mit. Wir haben ihn für ein ganzes Jahr nicht mehr gesehen. Hatten keine Ahnung, wo er war. Meine Mutter ist jeden Tag zur Gestapo gegangen, wo sie darum flehte, meinen Vater aus dem KZ freizulassen. Sie hat mich immer mitgenommen. Und da – kann ich mich erinnern – hatte ich Angst. Damals hatte ich blonde Haare und grüne Augen – ich schaute nicht jüdisch aus. Und ich denke, meine Mutter hoffte, dass mein Anblick die Gestapo-Männer milde stimmen würde. Ich kann mich auch erinnern, dass wir später aus unserer Wohnung geworfen wurden und in die Rembrandtstraße übersiedeln mussten – in ein jüdisches Ghetto. Und, dass mein Vater irgendwann ohne Vorwarnung nach Hause kam. Da war er einfach. Wir haben nie darüber gesprochen.
Er war in Dachau und Buchenwald?
Ja, sie ließen ihn frei mit der Auflage, das Land zu verlassen. Doch er war ein großer Familienmensch und sagte: „Ich habe Kinder, eine Frau, eine Schwiegermutter, die ich beschützen muss. Ohne die fahre ich nicht.“ Er wurde wieder verhaftet. Da ist er auf die Knie gefallen und flehte: „Bitte lasst mich frei, ich gehe noch heute Abend weg.“ Wir folgten ihm später nach Mailand. Nur meine Großmutter bekam keinen Pass. Und das ist wahrscheinlich das größte Trauma unserer Familie. Die Omama hat gesagt: „Nimm die Kinder und rette dich, ich bin schon alt.“ Ihr Tod war mein größtes Trauma. Man muss nicht im KZ gewesen sein, um diese Verletzung zu haben. Wir haben immer mit dem Holocaust gelebt. An diesen Wunden musste ich lange arbeiten.
Was haben Sie gemacht?
Ich wurde klinische Psychologin, weil ich das für mich heilen musste. Damals kam sogar die Sprache zurück, mein Deutsch wurde viel besser. Heute glaube ich, dass die deutsche Sprache von einem sehr alten und tiefen Platz in mir kommt.
Sie wurden Professorin auf drei Gebieten, Aktivistin gegen Antisemitismus, Rassismus, Homophobie und für die Frauenbewegung, jetzt sogar für das Klima. Was treibt Sie an?
Ich habe mich immer als Außenseiterin gefühlt und für Außenseiter interessiert. Nachdem ich mein Coming-out als Lesbe hatte, habe ich mich in der Frauenbewegung gut gefühlt. Bis ich feststellte, dass Lesben und Schwule oft antisemitisch waren. Besonders schwierig aber war für mich, dass es unter Juden, die so gelitten haben, auch Homophobie gab. Man kann selbst unterdrückt sein und trotzdem andere unterdrücken.
Und Sie begannen darüber zu schreiben. Wie wurden Sie zu einer der Pionierinnen des Feminismus?
Frauen haben mich immer am meisten interessiert. Als ich beauftragt wurde, für die University of Maryland ein Frauenstudium aufzubauen, habe ich festgestellt, dass wir Dinge unterrichten, die von Männern geschrieben und bewertet wurden. Männer aber wertschätzen das, was Frauen machen, nicht. Künstlerinnen, Musikerinnen, Regisseurinnen, Wissenschafterinnen... sichtbar machen, das war die Aufgabe. Später nannte man es Genderstudies, weil man die Frauen nicht studieren kann, ohne die Männer mit hinein zu nehmen. Es gibt keine freien Männer ohne freie Frauen. Und umgekehrt.
Bei all dem, was Sie in beinahe 90 Jahren erlebt haben: Was würden Sie der nächsten Generationen mitgeben?
Was immer wir tun: Stets im Hinterkopf behalten, dass wir nicht alleine auf der Welt sind und es Menschen gibt, die anders sind. Wir müssen Raum lassen, sie zu verstehen.
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