Marxismus reloaded: Karl Marx und sein widersprüchliches Erbe
Vor gut 150 Jahren erdachte ein deutscher Philosoph eine neue Weltordnung. Jetzt erlebt der Marxismus ein unerwartetes Revival – zwischen Jubel und Verdammnis.
Eines ist sicher: Es hat nach der Bibel nur wenige Bücher gegeben, die die Weltgeschichte so nachhaltig beeinflusst haben. Lenin, Stalin, Mao, Che Guevara und Fidel Castro – sie alle beriefen sich darauf. Der Autor war ihr Guru, „Das Kapital“ ihre Heilige Schrift. Gegen eine Vereinnahmung durch andere hat er sich stets gewehrt. Als er erfuhr, dass sich eine neue Partei in Frankreich als marxistisch bezeichnete, erwiderte er: „Was mich betrifft, ich bin kein Marxist!“
Also sprach – nein, nicht Andreas Babler –, sondern Karl Marx, der dieser Tage ein unerwartetes Revival feiert.
Fakt ist: Ab Mitte des 20. Jahrhunderts wurde etwa die Hälfte der Menschheit von Regierungen geführt, die sich auf Marx beriefen. „Karl Marx ist zur Ikone der unterschiedlichsten Strömungen geworden“, sagt die Historikerin Barbara Stelzl-Marx. Und doch haben die wenigsten sein Werk gelesen – geschweige denn verstanden. Sein Gedankengut diente als Legitimation für Regime, die seine Ideen weiterentwickelten, umdeuteten, missbrauchten. Bis wenig von dem blieb, was Marx an Freiheit für die Gesellschaft erdacht und erträumt hatte.
Anfangs kein Revoluzzer
Marx hat nicht als Revolutionär begonnen. Als Student interessierte er sich weder für Wirtschaft noch für Armut; seine Dissertation befasste sich mit den antiken Philosophen Demokrit und Epikur. Doch mit 25 wurde der Philosoph gemeinsam mit Friedrich Engels zum radikalen Kritiker der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die als Folge der industriellen Revolution eine gewaltige Produktivität entfaltet hatte. Was nur wenigen zugutekam. Auf der einen Seite die reichen Fabrikbesitzer. Auf der anderen eine verarmte Arbeiterschicht.
„Marx hat die kapitalistischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts einer genauen Analyse unterzogen. Und notwendige Kritik geübt – an Ausbeutung, Ungerechtigkeit, daran, dass viele arbeiten, aber nicht profitieren“, sagt der Historiker Helmut Konrad. Anhand ihrer Kritikpunkte entwarf er mit Engels ein eigenes Wirtschaftssystem – den Marxismus.
Heute hat Marx einen schlechten Ruf. „Marxisten“ haben einen noch schlechteren.
Böse ist der Marxismus in den Augen vieler – nicht zu Unrecht – weil im Namen von Marx und Engels weltweit politische Systeme errichtet wurden, die die Menschenrechte nicht gerade zum Leitbild erkoren haben.
von Helmut Konrad
Historiker
Der Marx-Kenner weiter: „Das reicht von den Grausamkeiten in der Sowjetunion, im Stalinismus, über China bis zu afrikanischen Ländern, Lateinamerika und Kuba. Kommunismus ist eine politische Form, die nicht in Einklang zu bringen ist mit liberaldemokratischen Grundsätzen.“
Wobei: Ist Kommunismus tatsächlich gleichbedeutend mit Marxismus? „Meiner Meinung nach nicht“, sagt Historiker Konrad. „Marx hat, wie andere Philosophen auch, eine Gesellschaftstheorie entwickelt. So wie man Hegelianer oder Kantianer sein kann, kann man auch Marxist sein. Marx selbst hat sich sicher nicht den Kommunismus vorgestellt, wenn er an die zukünftige Gesellschaft dachte.“
Eine Definitionsfrage
Wir lernen also: Wer Marxismus sagt, meint nicht unbedingt Marxismus. Viele Historiker sagen heute, dass Marx und sein Werk nicht direkt auch für den Leninismus, Stalinismus und Maoismus, für deren Terror und Millionen Tote verantwortlich ist oder für die undemokratische „Diktatur des Proletariats“. Und auch nicht für die real existierende staatliche Diktatur einer privilegierten Klasse von Funktionären.
Barbara Stelzl-Marx relativiert: „Man darf nicht vergessen, dass die massenhaften Verbrechen, die etwa im totalitären System des Stalinismus begangenen wurden, teilweise auch unter Berufung auf die marxistische Ideologie passierten.“ Zentraler Kritikpunkt am Marxismus: Die Neuordnung der Gesellschaft ist nicht ohne eine Revolution – also Gewalt – möglich.
Brille des Marxismus
Also darf man heute tatsächlich nicht Marxist sein? Konrad: „Na ja, klüger wäre es, zu sagen, dass einiges durch die Brille des Marxismus leichter zu erklären ist.“ Genau diesen Ansatz haben übrigens die Austromarxisten von Anfang an verfolgt. „Otto Bauer wollte nach Erringen der Mehrheit unter den Bedingungen der Demokratie eine Diktatur des Proletariats“, erklärt Stelzl-Marx. Und Konrad ergänzt: „In Österreich waren es die Marxisten, die sagten ,Wir müssen für das Wahlrecht kämpfen und für die Mitbestimmung der Menschen.‘ Gleichzeitig waren sie die schärfsten Gegner des Sowjetkommunismus.“
Kein Wunder, dass der sowjetische Botschafter damals klagte: Der größte Feind, den er in Österreich sieht, sei die Sozialdemokratie.
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