Der Historiker Dieter Bacher zitiert Befehl Nr. 270 vom 16. August 1941: „Auf Desertion steht die Todesstrafe. Wenn jemand seinen militärischen Posten verlässt, ist das eine Sache für das Standgericht. Im Laufe des Krieges wurde es dann noch härter für die Soldaten.“ Auch wer sich gefangen nehmen ließ und zur Zwangsarbeit verpflichtet wurde, fiel unter Befehl 270. Der Wissenschafter vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung weiter: „Der russische Historiker Pavel Poljan nannte die Betroffenen ,Opfer zweier Diktaturen‘. Zuerst gerieten sie in dem einen System, dem der Nazis, in Kriegsgefangenschaft. In der Heimat galten sie dann als Verräter, wurden lange von der Staatssicherheit drangsaliert oder kamen sogar in den Gulag.“
A priori Deserteure
Militärhistoriker Rauchensteiner ergänzt: „Nach 1945 sind die russischen Kriegsgefangenen, die in die Heimat zurückkehrten, a priori als Deserteure behandelt worden. Auch wenn sie in einer aussichtslosen Situation in einer Art Massengefangennahme gar nicht anders konnten. Die offizielle Argumentation: Als Angehöriger der Roten Armee hast du zu kämpfen. Notfalls bis du tot bist.“
In der offiziellen Kreml-Geschichtsschreibung komme das Thema nicht vor. „Die Aufarbeitung hat zwar vor gut 20 Jahren stattgefunden, aber gerade die jüngere Generation dürfte wenig davon wissen“, mutmaßt Bacher.
Auch beim Gegner, den Briten und Franzosen, gab es Fahnenflucht – allerdings nur Einzelfälle. In den USA wurde im Zweiten Weltkrieg nur ein einziger Soldat wegen Desertion hingerichtet.
Die Motive für das Weglaufen sind selten monokausal. Historiker, die Gerichtsakten auswerteten, kommen zum Schluss, dass politische Opposition viel weniger oft ausschlaggebend ist, als man annehmen würde. Meist ist es Angst, oder wie der Wehrmachtsdeserteur Ludwig Baumann meinte: „Die Wahrheit ist: Ich wollte nicht töten. Und ich wollte leben.“
Hosenflattern
Im Laufe der Geschichte hatten Kriegsherren tatsächlich oft Einsehen mit jungen Burschen ohne Kriegserfahrung. „Die meisten hatten einfach Hosenflattern. In der Regel wurden sie nicht so exemplarisch bestraft. Wenn jemand aber immer wieder desertierte, war das natürlich etwas anderes“, erzählt Rauchensteiner und ist auf einen Fall gestoßen, „da ist jemand achtmal desertiert. Als er abermals aufgegriffen wurde, hat man ihn tatsächlich aufgehängt.“
Seit im September mit der Teil-Mobilmachung der Krieg in der breiten russischen Öffentlichkeit angekommen ist, geht dort die Angst um.
Rauchensteiner fragt sich, „wie es den jungen Leuten ergehen wird, sollten sie versuchen, unter dem derzeitigen Regime wieder zurückzukehren“. Sie hätten, ob der schweren Strafen, nur zwei Möglichkeiten: „Sie bleiben im Ausland oder warten auf einen Umbruch in Russland, durch den sie pardoniert sind.“
Und Historiker Bacher antwortet auf die Frage, ob diese Fluchtbewegung Einfluss auf die militärische Schlagkraft habe: „Ich kann es mir nicht vorstellen.“
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