Es ist vier Uhr früh. Längst herrscht emsiges Treiben in neun niederösterreichischen Bauwollspinnereien. Und das wird bis neun Uhr abends auch so bleiben. Wir schreiben 1843 und Frauen haben einen 16 Stunden-Arbeitstag. So berichtet es der Wiener Arzt J. Kolz, der die Verhältnisse in den Fabriken von Amts wegen überwacht. Wobei „überwachen“ relativ ist: Eine gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit gibt es nicht. Erst Jahrzehnte später greift der Staat regulierend in die Arbeitsverhältnisse seiner Untertanen ein und macht die Lohnarbeiter zum Objekt staatlicher Politik: Am 9. März 1885 werden erstmals ein elfstündiger Arbeitstag, die Sechs-Tage-Woche und eine 24-stündige Sonntagsruhe gesetzlich fixiert.
Es ist der Auftakt einer langen Erfolgsgeschichte der Arbeitszeitverkürzung, deren Meilensteine die Einführung der 48-Stunden-Woche 1919, jene der 40-Stunden-Woche 1975 und die stufenweise Ausweitung des Urlaubsanspruches sind (siehe Grafik). Heute werden – je nachdem, ob man Gewerkschaft oder Wirtschaft fragt – die Rufe nach der 35-Stunden-Woche oder dem 12 Stunden-Tag lauter. Zeit, nachzufragen, wie sich das Verhältnis des Mensch zur Arbeit im Laufe der Evolution verändert hat.
In dieser Geschichte erfahren Sie:
Wann es den 2-Stunden-Arbeitstag gab.
Wo überhaupt nicht auf die Uhr geschaut wurde.
Und warum bis zum 17. Jahrhundert deutlich weniger gearbeitet wurde als heute.
„So lange wir Jäger und Sammler waren, hatten wir eine sehr geringe Arbeitszeit“, sagt die Sozialökologin Marina Fischer-Kowalski. Eine ganze Familie habe sich zwei Stunden pro Tag dem Beschaffen von Nahrung gewidmet. Und fertig.
Später wurde Arbeit zu einem stark belastenden Phänomen. Fischer-Kowalski: „In Agrargesellschaften waren 90 bis 95 Prozent aller Menschen am Land damit beschäftigt, Nahrung zu produzieren. Sie mussten wahnsinnig viel arbeiten und führten trotzdem ein karges Leben.“ Die Zeit selbst spielte eine geringe Rolle: Die Arbeitsabläufe der Bauern waren von den Jahreszeiten geprägt, Minuten und Sekunden noch nicht messbar. Die Entlohnung war nicht an konkrete Arbeitszeiten gekoppelt. In ihrem Buch The Overworked American: The Unexpected Decline of Leisure schreibt die Soziologin Juliet B. Schor, dass das Arbeitstempo in vorkapitalistischen Zeiten entspannt gewesen sei. Die durchschnittliche Jahresarbeitszeit im Mittelalter ist mit der heutigen durchaus vergleichbar.
Bis zum 17. Jahrhundert wurde deutlich weniger gearbeitet, als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch die Aufzeichnungen des Bischofs von Durham, James Pilkington, zeigen, dass der Arbeitstag um 1570 von Pausen geprägt war – für das Frühstück, das Mittagessen und den Nachmittagsschlaf. Die jährliche Arbeitszeit damals: etwa 2000 Stunden pro Jahr – kaum mehr als heute. Zahlreiche kirchliche und weltliche Feiertage machten es möglich.
Arbeitskräfte-Schwemme
Die Arbeitszeit-Misere begann mit der Industrialisierung und dem neuen Zeitbewusstsein. „Das Konzept der Arbeitszeit im Gegensatz zur Freizeit ist in Folge der industriellen Revolution entstanden – also ein Kind der Fabrik“, sagt die Umwelthistorikerin Verena Winiwarter. Erstmals wurden Arbeits- und Wohnort strikt getrennt. Das starke Wachstum der Bevölkerung führte zu einem Überangebot an Arbeitskräften, Arbeitgeber konnten die Arbeitsbedingungen diktieren. Folge: Arbeitszeit-Verlängerung durch die Unternehmer, die versuchten, das in die Maschinen investierte Kapital möglichst schnell zu amortisieren. Freizeit gab es faktisch nur am Sonntag. So etwas wie Urlaub gar nicht.
„Henry Ford führt in seiner Autofabrik das Fließband ein und zerstückelt damit die handwerkliche Kompetenz in monoton wiederkehrende, zeitlich optimierte Handgriffe. Normierte Produktionsabläufe brauchen Schichtarbeit, Stechuhren und eine Gleichschaltung der Arbeitszeit“, analysiert Winiwarter. Und Fischer-Kowalski ergänzt: „Mit der Industriellen Revolution entstand das Proletariat, das eine enorme Arbeitsbelastung hatte“.
Doch jeder Trend erzeugt einen Gegen-Trend: Schon bald setzte der Kampf um die Verkürzung der täglichen Arbeitszeit auf ein erträgliches Maß ein. Die neue, aufstrebende Bewegung dahinter: die jungen Sozialdemokratie. Doch das ist eine andere Geschichte.
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