Meist leiden Wissenschafter am Fehlen von Quellen, nicht so in diesem Fall: Reischek hat 1.500 Tagebuchseiten hinterlassen – „ohne Seitenangaben, kreuz und quer, auf Englisch und Deutsch sowie ohne Punkt, Komma und Orthografie geschrieben“, berichtet Sabine Eggers. Die Leiterin der internationalen Sammlungen der Anthropologischen Abteilung des NHM hat die Umstände, unter denen die Maori-Überreste ins Museum kamen, erforscht.
Mit Studierenden hat sie die Tagebücher durchgeackert – „wobei eher quergelesen“, wirft sie ein – und auf Schlüsselworte gescannt. „Reischek geht also bei Nacht und Nebel los – in diese Region, die tabu ist. Das Wort tapu stammt tatsächlich aus der Maori-Sprache und bedeutet verboten, aber auch heilig“, erzählt Eggers. „Er packte die Schädel in seinen Rucksack und war sich des Unrechts voll bewusst. Schon das Betreten war mit der Todesstrafe belegt. Seine Rechtfertigung: ,Er muss sammeln, denn diese Rasse ist am Aussterben.‘“
Eggers sagt, es habe sie verblüfft, dass Reischek unverblümt über das Tabu dieser Aneignung schrieb, aber die Europäer für das Aussterben der Maori verantwortlich machte. Und Martin Krenn, Wissenschaftshistoriker am NHM, ergänzt: „Zwar gab es im 19. Jahrhundert das heutige Problembewusstsein – völkerrechtlich, moralisch, ethisch – noch nicht.“
Er habe für die Wissenschaft sein Leben riskiert, wenn man es schönreden möchte. Hier erkennt Eggers eine Parallele zur Gegenwart. „Wir treffen auch heute Entscheidungen, von denen wir meinen, dass sie richtig sind, haben aber keine Ahnung, was die nächste Generation dazu sagen wird. Vielleicht gibt es dann viel tollere Methoden, um etwas herauszufinden. Aber die Schädel sind dann nicht mehr da.“ Denn am Dienstag werden 50 Schachteln mit 35 Schädeln in einer feierlichen Repatriierungszeremonie an eine Maori-Delegation übergeben.
Unterdessen laufen die Forschungsarbeiten im NHM weiter: „Es geht um die Rekonstruktion von Eigentumsverhältnissen“, sagt Krenn. Leider fehlen Quellen mitunter völlig.
Knochenarbeit Quellen finden
Daher hat sich der Wissenschafter jetzt die Kriegsmarine vorgenommen. „Österreich hatte zwar keine Kolonien, bekam aber doch Objekte per Schiff geliefert“, erzählt er. Mit etwas Glück könnten die Unterlagen der Marine etwa im Staatsarchiv Aufschluss über den Erwerb des einen oder anderen Stücks geben. Zum Beispiel Frachtbriefe oder Notizen der Schiffsärzte, die im Nebenjob einen Sammlungsauftrag hatten und im Hafen interessante Objekte erwerben sollten.
Krenn hat beobachtet, dass beim Thema koloniale Aneignung in den vergangenen Jahren immer zwei Bereiche im Fokus gestanden sind: „Die menschlichen Überreste und die Kunstartefakte, wie die Federkrone“. Jetzt bemerkt der Wissenschaftshistoriker, dass man sich langsam auch anderen Kategorien zuwendet.
Das jetzt angestoßene Forschungsprojekt sei ergebnisoffen und „es wird sicher nicht rauskommen, dass wir unzählige Objekte zurückgeben“, sagt er. „Man könnte sich auch dafür entscheiden, die Stücke bewusst im europäischen Land zu lassen, Kooperationsabkommen mit dem Herkunftsland zu schließen und so nicht alle Objekte an einem Standort zu konzentrieren.“ Keine schlechte Idee, wie man 2018 in Brasilien gesehen hat, wo das Nationalmuseum samt einem Gutteil der Exponate abgebrannt ist.
Neues Problembewusstsein
Vieles müsse neu diskutiert werden. Selbst das Argument, dass die Gesetze damals eben so waren und vieles legal ins Land kam. Die Politik hat jedenfalls bereits eine Kommission eingesetzt, die Empfehlungen erarbeitet, wie die Republik Österreich mit genau solchen Dingen umgehen soll. Das sei Ausdruck eines neuen Problembewusstseins. Es gehe nicht darum, die heutige Perspektive dem 19. Jahrhundert „überzustülpen“. Aber: „Nur weil etwas einmal ein Gesetz war, kann es trotzdem der Bewertung des 21. Jahrhunderts nicht standhalten.“
Apropos 21. Jahrhundert
Der berühmte Ägyptologe Zahi Hawass wird im Oktober eine Online-Kampagne starten. „Ich werde fragen, ob drei Dinge nach Ägypten zurückgebracht werden sollen“, erzählt er: „Die Nofretete aus dem Ägyptischen Museum in Berlin, der Stein von Rosette aus dem British Museum in London und der Dendera-Zodiak aus dem Louvre. Und ich werde die Leute überall auf der Welt bitten, die Petition im Internet zu unterzeichnen.“
Man sieht: Der Druck erhöht sich, und vieles ist im Umbruch.
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