„Es wird nicht mehr so werden, wie es war“
Das Ganze begann, weil Manfried Rauchensteiner plötzlich mehr Zeit hatte, als er ursprünglich annahm. „Und was macht man mit Zeit? Man schaut, dass man etwas einigermaßen Sinnvolles tut“, räsoniert er im Gespräch mit dem KURIER. Im nördlichsten Niederösterreich – eingesperrt, wie viele andere – beschloss er im vergangenen Jahr, „das zum Thema zu machen, was uns gerade beschäftigt“. Rauchensteiner – bekannter und renommierter Historiker – kontaktierte führende Intellektuelle unterschiedlicher Disziplinen: den Schriftsteller Michael Köhlmeier, den Wirtschaftswissenschafter Christian Badelt, den Schulexperten Kurt Scholz, den Ökologen Klement Tockner. Gemeinsam mit vielen anderen betrachteten sie die kulturellen, philosophischen, politischen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Aspekte der Pandemie. Und die Veränderungen, mit denen uns Corona konfrontiert.
Heraus gekommen ist der Essayband Corona und die Welt von gestern, ein Rundgang durch ein Jahr Ausnahmezustand mit Rückschauen auf vergangene Seuchen, Reflexionen zur Gegenwart und Ausblicken, wohin die Reise gehen könnte. So gesehen hätte das Buch genauso gut Corona und die Welt von morgen heißen können.
Manfried Rauchensteiner, Michael Gehler (Hg.): „Corona und die Welt von gestern“. Böhlau Verlag. 300 Seiten. 29 Euro
Hellhörig wurde Historiker Rauchensteiner, der auch eine sehr umfangreiche Arbeit über den Ersten Weltkrieg inklusive der folgenden Pandemie verfasst hat und daher mit der Spanischen Grippe vertraut ist, als in der aktuellen Diskussion immer wieder Worte fielen, bei denen er dachte: „Das kenne ich doch.“ Sehnsucht nach der Normalität. Permanenter Ausnahmezustand. Anpassungskrise. „Es stellte sich heraus, dass wir im Grunde genommen in vielfacher Weise mit identen Problemen kämpfen“, analysiert Rauchensteiner. „Wie lange soll eine Schließung dauern? Kann man Kulturstätten wirklich zusperren? Welche Auswirkungen gibt es bei Schulen und im Unterricht? Wie schaut es in anderen Ländern aus?“
Natürlich seien die Schlagworte nicht eins zu eins auf die Situation des Jahres 2020 anzuwenden. Doch sie laden dazu ein, sich mit Krisen, aber auch deren Überwindung auseinanderzusetzen, schreibt der Autor. „Was ich dabei nicht wissen konnte und zu optimistisch eingeschätzt habe, das war die Dauer. Ich dachte, alles wird im Sommer oder Herbst zu Ende sein. Das war der Irrtum. Ich habe blauäugig den Fortschritt der Wissenschaft einkalkuliert.“ Wer im Buch Antworten sucht, zum Beispiel zur Rückkehr der Normalität, findet sie. „Aber vielleicht für viele verstörend. Es wird nicht mehr so werden, wie es war“, ist der Herausgeber überzeugt. Derzeit leben wir noch in einem Spannungsfeld – „dem Wissen, dass es anders wird, und der Sehnsucht, es soll so sein wie gestern.“
Paradigmenwechsel
Bereits in diesem einen Jahr habe sich in allen Lebensbereichen so viel verändert, dass er von einem Paradigmenwechsel, der in die Geschichtsbücher eingehen wird, spricht. „So wie es jetzt ausschaut, ist es eine echte Zäsur. Und nicht nur eine kleine Delle.“ Gebiete, auf die sich die Krise besonders auswirken wird? Langes Schweigen. „Es fällt mir schwer, ein Gebiet auszuklammern.“
Wie also damit umgehen? Philosoph Robert Pfaller beschreibt im Buch in einem Zwiegespräch das Virus als unseren Partner und Kollegen, den wir akzeptieren müssen. Rauchensteiner abschließend: „Das ist eine Aussage, die sich in vielen anderen Beiträgen bestätigt. Wir müssen akzeptieren, dass wir dieses Virus wahrscheinlich nie wieder loswerden.“
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